Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche, die Entstehung und ihre Ursprünge

Neuapostolische Kirche Kritik
Geschichte der NAK – Entstehung & Ursprünge

Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche, ihre Entstehung und ihre Ursprünge werden in diesem Artikel ausführlich behandelt. Jeder, der Die Neuapostolische Kirche im Kern verstehen will, muss sich mit ihrer Entstehung, ihre Geschichte und ihren Ursprüngen befassen.

Von Dr. theol. Lothar Gassmann, Auszüge aus einer Vorlesung an der Freien Theologischen Akademie Gießen.

Einleitung

Gibt es wieder Apostel? Vertreter der Neuapostolischen Kirche, aber auch anderer „apostolischer“ Kirchen und Gruppen (z.B. Katholisch-Apostolische Kirche, Apostelamt Juda, Apostelamt Jesu Christi, Reformiert-Apostolischer Gemeindebund, Apostolische Gemeinde) sind dieser Ansicht und haben neue Apostel berufen.

Wie kam es dazu? Geschah dies zu Recht und in Einklang mit dem Wort der Heiligen Schrift? Um diese Fragen soll es in Folgenden gehen.

Es kann sich hier aus Platzgründen um keine umfassende Darstellung der Neuapostolischen Kirche handeln, sondern nur um eine Skizze ihrer Geschichte und eine Beschränkung auf die Frage nach dem Geistverständnis und neuen Apostolat. Eine ausführliche wissenschaftliche Darstellung sowie die Behandlung weiterer wichtiger Themen im Zusammenhang mit der neuapostolischen Lehre und Praxis (z.B. Verhältnis von Bibel und Apostellehre, Anthropologie, Christologie, Eschatologie sowie Taufe, Versiegelung und Abendmahl für Lebende und Tote (1) gedenke ich, soweit Gott mir Zeit und Kraft hierzu schenkt, zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff zu nehmen. (2)

Die folgenden Ausführungen gehen auf eine Vorlesung zurück, die ich Mitte der neunziger Jahre an der Freien Theologischen Akademie Gießen hielt (der Redestil wurde beibehalten). Mögen sie allen Leserinnen und Lesern zur Klärung verhelfen und zum Segen dienen.

Name

Die Neuapostolische Kirche ist hervorgegangen aus der Katholisch-Apostolischen Kirche – zumindest nach ihrem Selbstanspruch, aber schon hier setzt das Problem an, denn die Katholisch-Apostolische Kirche erkennt die Neuapostolische Kirche nicht an. Die Entwicklung von der Katholisch-Apostolischen Kirche (die es heute noch gibt) bis zur Neuapostolischen Kirche verlief kompliziert. Von verschiedenen Abspaltungen und Splittergruppen wird noch die Rede sein. Jedenfalls war seit 1835 die Katholisch-Apostolische Kirche vorhanden. 1863 hat sich als Abspaltung davon die „Allgemeine Christliche Apostolische Mission“ herausgebildet. Die aus dieser hervorgegangene Gruppe, die zunächst „Allgemeine Apostolische Mission“ hieß und zur Neuapostolischen Kirche wurde, trug dann ab 1907 den Namen „Neuapostolische Gemeinde“ und ab 1930 den Namen „Neuapostolische Kirche“. Der holländische Zweig, der wichtig ist, denn dieser ging dem deutschen voraus, hieß „Hersteld Apostolische Zending Gemeente“. Der nordamerikanische Zweig trug den Namen „First General Apostolic Church in Chicago, Illinois“.

Die „Katholisch-Apostolischen Gemeinden“

Um die Geschichte der Neuapostolischen Kirche zu betrachten, müssen wir zunächst die Geschichte der Katholisch-Apostolischen Kirche darstellen. (3) Diese existiert heute noch in verschwindend kleinen Gruppen in verschiedenen Städten, die aber in der Regel so unauffällig sind, dass keiner weiß, dass sich da wirklich katholisch-apostolische Gemeindeglieder treffen. Die Versammlungsräume und Kirchen sind häufig nicht mehr als solche von außen zu erkennen, aber es gibt sie noch, wenn auch in einer abnehmenden Zahl. Man schätzt, dass noch einige tausend Menschen in Deutschland die katholisch-apostolischen Gottesdienste besuchen.

Erweckung in England, Schottland und Deutschland

Worum handelt es sich bei der Katholisch-Apostolischen Kirche? Ihre Geschichte begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Hervortreten vergessener Charismata (Gnadengaben, Geistesgaben). 1820/21 gab ein Geistlicher der anglikanischen Kirche zwei Schriften heraus, die zu Gebetsversammlungen an einem bestimmten Tag der Woche für eine besondere Ausgießung des Heiligen Geistes aufriefen. Man erstrebte also eine Art „charismatische Erneuerung“. Der Verfasser hieß James Haldane Stewart (1776-1854), und seine Schriften waren wohl die Auslöser für viele der nachfolgenden Ereignisse. Die erste Schrift trug den Titel „Hints for a general union for prayer for the outpouring of the Holy Ghost“ („Hilfeleistungen für eine Generalvereinigung zum Gebet für das Ausschütten des Heiligen Geistes“). 1820 veröffentlicht, erreichte diese Schrift in vier Jahren in England, Schottland und Irland 322.000 Exemplare Auflage.

Die weitere Schrift von ihm „Thoughts on the Importance of special Prayer for the general outpouring of the Holy Ghost“ („Gedanken über die Bedeutung des speziellen Gebetes für die allgemeine Ausschüttung des Heiligen Geistes“) erschien erstmals 1821 mit einer etwas geringeren Auflage von 89.000 Exemplaren in den Folgejahren. Viele Menschen haben diese Schriften gelesen und wurden dadurch zu Gebetsversammlungen veranlasst, um eine neue Ausschüttung des Heiligen Geistes und der Geistesgaben zu erbitten. Diese Gebete wurden sehr bald erhört. Bereits in den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam es an drei Hauptschauplätzen zu „Geistesaufbrüchen“, und zwar mit den Gaben der Prophetie, Weissagung, Glossolalie (Zungenreden) und Krankenheilung.

Der erste Hauptschauplatz war seit 1828 die kleine römisch-katholische Gemeinde Karlshuld auf dem Donaumoos in Bayern/Deutschland. Der zweite lag seit 1830 im westlichen Schottland, im Kreis reformierter Christen, der dritte in London ab 1831, wo häusliche Gebetsversammlungen in anglikanischen Kreisen stattfanden. Diese drei Wurzeln: Karlshuld, Schottland und England mit Sitz in und bei London sind nachfolgend näher zu betrachten.

Was geschah zunächst in Karlshuld? Dort lebte der junge römisch-katholische Priester Johann Lutz. Dieser hatte ein starkes Erlebnis: Von seinen Sünden überwältigt und nahe am Abgrund der Verzweiflung, hatte er jahrelang mit Fasten, Beten und Wachen nach den Regeln der katholischen Kirche versucht, Licht und Trost zu finden. Aber es war alles umsonst gewesen, bis schließlich übernatürliche charismatische Phänomene (Zungenreden, Weissagung) in seiner Gemeinde auftraten. Es ist unwahrscheinlich, dass der Anstoß hierzu von England und Schottland kam. Wahrscheinlich wurde Lutz unabhängig davon mit den Geistesgaben konfrontiert. Man vermutet, dass es auch in Deutschland Parallelen in diese Richtung gab, unabhängig von den englischen Schriften Stewarts.

Jedenfalls beteten immer mehr Menschen, von Lutz` Predigt angeregt, um diese besonderen Glaubenserfahrungen und Geistesausgießungen. 1828 wurden von verschiedenen Einzelpersonen Worte geäußert, die als „Worte der Weissagung“ gedeutet wurden. Lutz glaubte daran, dass dies alles von Gott komme, nicht vom Teufel, und dass dies eine Wiederbelebung der urchristlichen Gaben des Geistes sei. In diesen Gesichten und Weissagungen wurde verlautbart, dass Gottes Gericht nahe sein, dass Christus bald kommen würde und dass er Botschafter schicken wolle. „Der Herr sagte: ‘Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden…’“. Diese Worte wurden oft wiederholt und hinterließen einen tiefen Eindruck auf Lutz und verschiedene Gemeindeglieder. Lutz kam erst 1842 durch den schottischen „Propheten“ William Caird in persönlichen Kontakt mit den englischen Kreisen und wurde 1859 – nach seiner Exkommunikation aus der Römisch-Katholischen Kirche – zu einem Engel (Bischof) der Katholisch-Apostolischen Kirche geweiht.

Aufschlussreich ist, dass über diese Aufbrüche und auch über die folgenden in England in den neuapostolischen Werken „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (S. 13 ff.) und „Neue Apostelgeschichte“ (S. 27. 73 ff.) berichtet wird. Diese Aufbrüche werden also vonseiten der Neuapostolischen Kirche als „Vorläufer-Bewegungen“ betrachtet (ganz im Unterschied zur Sicht katholisch-apostolischer Vertreter, die sich gegen diese Vereinnahmungen wehren; s.u.).

Die anderen „Aufbrüche“ fanden in Schottland und England statt. Über den schottischen Aufbruch heißt es in der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (S. 16): „Ein einfacher Zimmermann in Schottland, Jakob Grubb, war es, durch den Gott sprach …“ Grubb war offenbar ein Auslöser: Durch seine Handauflegungen und Inspirationen kamen andere mit diesem Geist in Berührung. Jakob Grubb „sprach vom Kommen des Herrn, und davon, dass er vorher noch eine besondere Arbeit in seiner Kirche verrichten wolle“. Er sprach „von einem scheinenden Licht, das sie erleuchten würde, von einer Wolke, die wie eine Menschenhand aussähe und die anwachsen solle, um alles zu bedecken.“ Und diese Menschenhand wird von neuapostolischer Seite als Handauflegung der neuen Apostel interpretiert.

Nun lebte nicht weit von der Hütte Grubbs entfernt die Familie Campbell. Der Vater Campbell war ein Geistlicher und hatte zwei Töchter. Die ältere Tochter hieß Isabell. Diese wurde wie eine Heilige verehrt. Menschen pilgerten zu ihr hin. Es gab offensichtlich auch da schon besondere Gaben und Erscheinungen. Isabell ist allerdings früh an Tuberkulose verstorben. Der Geist und die Verehrung gingen dann auf ihre Schwester Mary über. Beide Mädchen hatten die „Gabe der Weissagung“ besessen und Visionen und Gesichte gehabt.

Dieses Phänomen wird in der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (S. 16) als eine Erfüllung von Joel 3, 1 gedeutet: „Und eure Söhne und Töchter sollen weissagen; und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen.“ – „Diese Zeit war nun gekommen“, wird behauptet. Nun wurde auch Mary Campbell eines Tages schwer krank. „Lungentuberkulose“ lautete wie bei ihrer Schwester die Diagnose. Und nun heißt es weiter:

„An einem Abend lag sie dort, ohne ein Wort zu äußern, in stillem Gebet vertieft. Zwei Freundinnen waren bei ihr zu Besuch. Plötzlich erhob sie sich und trat auf ihre Füße. Sie redete in einer Sprache, die keiner der Anwesenden verstehen konnte … Sie wurde mit Kraft und Stärke angefüllt; denn aus eigener Kraft konnte sie diese besonderen und geheimnisvollen Worte nicht äußern. Dann legte sie sich wieder auf ihr Bett und war so schwach wie zuvor. Dies geschah am 21. März 1830.“ (4)

Nun gab es eine weitere Familie, die auf der anderen Seite des Clyde River in Schottland wohnte, die Familie MacDonald. Hier lebten zwei Brüder und eine Schwester zusammen: Georg, Jakob und Margaret MacDonald. Auch ihnen wurden die Gaben der Weissagung und das Reden in fremden Zungen offenbar:

„Es war an einem Sonntag ; eine ihrer Schwestern mit einer Freundin, die zu diesem Zweck in das Haus gekommen, hatte den ganzen Tag in Demütigung vor Gott, Fasten und Gebet zugebracht mit besonderem Hinblick auf die Wiederherstellung der Geistesgaben. Am Abend waren sie in das Krankenzimmer der Schwester (Mary Campbell; L. G.) getreten, die auf einem Sofa lag; sie waren da mit mehreren Hausgenossen im Gebet begriffen, als mitten in ihrer Andacht der Heilige Geist mit gewaltiger Kraft über das kranke Weib, die in ihrer Schwäche dalag, kam und sie zwang, lange und mit übermenschlicher Kraft in einer unbekannten Sprache zu reden zum Erstaunen aller, die es hörten, und zu ihrer eigenen großen Erbauung und Freude in Gott, denn ‘wer mit Zungen redet, erbauet sich selbst.’

… Gleichzeitig lebte am anderen Ufer des Clyde in der kleinen Stadt Port Glasgow eine wegen ihrer Gottesfurcht und Frömmigkeit allgemein geachtete Familie, namens MacDonald, bei der sich alsbald ähnliche Zustände einstellten. Die beiden Brüder James und George lebten mit einer kranken Schwester zusammen, die zuerst vom Geist ergriffen wurde. James … war einst um Mittag von seiner Arbeit nach Hause zurückgekehrt, als er seine leidende Schwester mitten in den Konvulsionen (Zuckungen, verbunden mit einem Aufbäumen des Körpers; L. G.) jener neuen Inspiration fand.

Die erschrockene und betroffene Familie schloss daraus, dass sie ihrem Ende nahe sei; da wandte sie sich in langer Rede an James und schloss mit dem Gebet, dass er sofort möge mit der Kraft des Heiligen Geistes begabt werden. Augenblicklich sagte James ruhig: ´Ich habe sie.` Er trat an’s Fenster und stand dort ruhig einige Minuten; seine Züge nahmen eine andere Gestalt an, mit majestätischem Schritt trat er an das Bett der Schwester und redete sie mit den Worten des 20. Psalms an: `Erhebe dich und stehe aufgerichtet!` Er wiederholte die Worte, fasste sie bei der Hand und sie stand auf.

Die Schwester hatte sich nicht nur für den Augenblick erhoben, sie war geheilt und sofort schrieb der Bruder an die anscheinend dem Tode nahe Mary Campbell und richtete an sie dieselbe Aufforderung mit demselben Erfolg (also eine ´Fernheilung` per Brief; L. G.). Die Kranke empfing den Brief mitten in der äußersten Schwäche, aber ohne hilfreiche Hand stand sie auf, erklärte sich für geheilt und war dem Leben wiedergegeben. Oft ließ sie sich nun als Inspirierte in großen Versammlungen hören, während die mehr nüchternen MacDonalds still und zurückgezogen ihre frühere Lebensart beibehielten“. (5)

Diese Ereignisse verursachten großes Aufsehen bis nach London. In der Nähe von London gab es seit 1826 die Albury-Konferenzen, benannt nach dem schloss und Sitz des englischen Bankiers Henry Drummond (s.u.). Dort hatte man auch schon um die Wiederbelebung der urchristlichen Geistesgaben gebetet. Um die Phänomene zu untersuchen, reisten Teilnehmer der Albury-Konferenzen nach Schottland und sagten danach: „Hier sind die gleichen Gaben nach 1. Korinther 12 und 14 wie in der Urkirche – Glossolalie, Krankenheilungen und Weissagungen und ähnliches.“ Alles das geschah wohlbemerkt fast ein Jahrhundert vor Beginn der Pfingstbewegung.

Unter denen, die zu Campbells und MacDonalds reisten, waren der Londoner Rechtsanwalt Cardale, auf den ich noch mehrmals eingehe, und zwei Ärzte, Dr. Row und Dr. Thompson. Diese blieben einen ganzen Monat in Glasgow und studierten die Phänomene. Sie schienen ihnen ein echtes Geisteswirken von Gott zu sein.

Welche „Prophezeiungen“ gab es denn in Karlshuld und Schottland? Über die Ereignisse in Karlshuld im Jahre 1828 findet sich folgende Schilderung: „Zwei Personen (ein Mann und eine Frau) bekamen prophetische Gaben, und folgende Punkte waren es vorzüglich, die sehr oft gesagt wurden: Der Herr wolle jetzt seine Kirche wiederherstellen, wie am Anfange: Dieses Heiles und Segens werde er Protestanten, Katholiken u. a. ohne Unterschied teilhaftig machen; er werde wieder Apostel geben und Propheten, wie am Anfange…“, so in einem Brief von Lutz an den katholisch-apostolischen Professor Heinrich Thiersch in Marburg vom 3.2.1852.

Über „Prophezeiungen“ in Schottland berichtet R. Norton in seinem Buch „The Restoration of Apostles And Prophets“ aus dem Jahre 1861 (S. 20 ff.): „Die Zeit ist kurz. Die Zeit ist nahe. Gott kommt näher. Der gelobte Morgen kommt.“ Und eine andere „Prophezeiung“ lautete: „Ich erinnere mich an das Rufen im Geist, ‘Sende uns Apostel, – sende uns Apostel’“.

Die „Prophezeiungen“ waren also ganz deutlich verbunden mit dem Ruf nach Aposteln, nach der Wiederherstellung der Urkirche in ihrer völligen Gestalt mit allen damaligen Ämtern.

Edward Irving

Und nun kommen wir etwas ausführlicher zu sprechen auf eine Schlüsselfigur der Anfangszeit. Es ist der Theologe Edward Irving. Wer war Edward Irving? Geboren am 4. August 1792 in Annan in der schottischen Grafschaft Dumfries, studierte er später an der Universität Edinburgh. Mit 18 Jahren wurde er Lehrer der Mathematik an einer Schule in Haddington, wo er bis 1819 blieb. Er wollte Missionar werden und wurde dann als Hilfsprediger von dem bekannten schottischen Verkündiger Thomas Chalmers nach Glasgow berufen. Dies geschah im Jahre 1819. In Glasgow allerdings konnte er noch nicht durchdringen, er hatte da wenig Erfolg. 1822 schließlich erfolgte seine Berufung nach London, die von dem Presbyterium der kleinen kaledonischen Kirche in Hatton Garden im Zentrum Londons ausging. Das war für den Dreißigjährigen ein großer Schritt.

Irving besaß eine feurige Predigtgabe, konnte die Intellektuellen ansprechen und offenbarte neue Erkenntnisse, die er den Menschen vermitteln wollte. So hatte er bald Zulauf von höchsten Kreisen der Londoner Gesellschaft. Seine Kirche war meistens überfüllt. Deshalb hat seine spätere Amtsenthebung umso größeres Aufsehen verursacht. Unter seinen Zuhörern waren etwa König Georg IV., die Herzöge von York und Kent, Lord Brougham und Canning, viele Größen der Kunst, Wissenschaft und Politik. Diese strömten Sonntag für Sonntag zu der kaledonischen Kapelle. Diese konnte die Menschen bald nicht mehr fassen, und so musste man auf dem Regent Square 1827 extra für Irvings Gemeinde eine neue Kirche bauen. Der Gottesdienst dauerte selten unter zweieinhalb Stunden.

Irving hatte mit der Kirchenleitung bereits ab 1827 Probleme bekommen. Er war Mitglied der schottisch-presbyterianischen Kirche, die einen strengen Calvinismus vertrat. Seine Christologie sei häretisch (eine Irrlehre), warf ihm seine Kirche vor. Im Oktober 1827 kam ein Mann in seine Sakristei und fragte ihn, „ob er in seiner Predigt den menschlichen Leib des Herrn als von sündlicher Substanz bezeichnet habe, ob er glaube, dass der Leib des Sohnes Gottes sterblich, verderbt und vergänglich, wie jeder Menschenleib, gewesen sei?“ Und als er das bejaht hatte, erschien kurz darauf eine Schrift von eben diesem Mann namens Cole, der ihn öffentlich dieser Irrlehre beschuldigte. Irving musste antworten mit der Verteidigungsbroschüre „Christi Heiligkeit im Fleisch“. (6)

Irvings Christologie ist tatsächlich so beschaffen, dass er sehr stark die Menschlichkeit Jesu betont, kaum die Göttlichkeit. Er betrachtet Christus als Repräsentanten der Menschheit, der uns alle verkörpere. Christus sei nur deshalb Christus, weil in ihm der Geist Gottes wohne. Die Geistestaufe mache ihn zu dem, der er sei – und diese könnten wir auch alle erlangen. Irvings Geistbegriff besagt, dass der Geist Gottes die menschliche Natur Christi erfüllt und ihn dadurch zu übernatürlichen Taten befähigt habe. Christus habe das vorweggenommen, was nun jeder Mensch erlangen könne, wenn auch nicht in der Vollkommenheit wie Christus. Irvings Christologie – so möchte ich an dieser Stelle anmerken – ist zwar nicht repräsentativ für die Christologie der Katholisch-Apostolischen Kirche, auch nicht der Neuapostolischen Kirche und auch nicht der Pfingstbewegung, aber eine Schwerpunktverlagerung von der Bedeutung Jesu Christi auf die Bedeutung des Heiligen Geistes ist bei all diesen – in sich unterschiedlichen – Gruppen festzustellen. (7)

Als Irving im Mai 1828 in Edinburgh/Schottland, in seiner Heimat, weilte, lernte er den Geistlichen John Campbell kennen. Dieser John Campbell stammte aus der bereits erwähnten Familie Campbell aus Gairloch im Norden Schottlands. John Campbell hatte auch Probleme mit seiner Kirche und befürchtete, seines Amtes enthoben zu werden, was allerdings erst drei Jahre später, 1831, eintrat. Er lehrte die Ansicht, die gegen den strengen Calvinismus mit seiner doppelten Prädestinationslehre stand, nämlich dass Gott alle Menschen so liebe, dass er für alle seinen Sohn in den Tod gegeben habe. Da Christus für alle gestorben sei, könne er allen vergeben und sie vom Gericht freisprechen. Es existiere also keine Vorherbestimmung zum Heil oder zur Verdammnis, sondern Gottes Liebe gelte universal (Allversöhnung oder Heilsuniversalismus). Durch den Kontakt mit John Campbell und seiner Familie kam Irving auch mit den übernatürlichen Phänomenen in Berührung, die oben bereits geschildert wurden.

Durch die Vermittlung Irvings und anderer Personen kamen diese Gaben der Weissagung, des Zungenredens, der Heilung und Prophetie nach London. Anfang der dreißiger Jahre wurde dort in Gebetsstunden um das Ausgießen des Heiligen Geistes in seiner Fülle gefleht. Die Person, die dazu gebraucht wurde, war zunächst einmal die Frau des Rechtsanwaltes Cardale. Frau Cardale weissagte und sagte: „Der Herr kommt bald, er kommt, er kommt.“ Wir müssen rückblickend sagen: Das ist damals nicht eingetroffen! Insofern haben sich diese „Weissagungen“ als doch nicht von Gott inspiriert erwiesen. Irving aber duldete sie in zunehmendem Maß in seiner Gemeinde.

1830/31 traten drei Zungenrednerinnen in London auf: Mrs. Cardale, die zunächst in Hausversammlungen in Zungen redete; Maria Caird, geb. Campbell, die sich zusammen mit ihrem Gatten William Caird einige Zeit bei Irving aufhielt, dann aber wieder nach Schottland zurückkehrte; und eine Ms. Hall, welche die erste war, die während der öffentlichen Sonntagsgottesdienste in der Regent Square Church in Zungen redete. Und das führte zu Tumulten, Sensationsgier und Auseinandersetzungen in der Kirchengemeinde, in der Presbyterianischen Kirche und schließlich zur Amtsenthebung Irvings. Irving hat nach anfänglichem Zögern dieses öffentliche Zungenreden und die Unterbrechung des Gottesdienstes durch Weissagungen gestattet. Ein Augenzeuge beschreibt die damaligen Vorkommnisse folgendermaßen:

„Ich ging zur Kirche … und war wie gewöhnlich durch Irvings Vorträge und Gebete sehr befriedigt und erbaut; plötzlich aber wurde ich unerwartet unterbrochen durch die wohlbekannte Stimme einer der Schwestern, welche, nicht imstande sich länger zurückzuhalten und die kirchliche Ordnung scheuend, in die Sakristei eilte und dort dem Ausbruche freien Lauf ließ, während eine andere, wie ich hörte, aus demselben Antrieb das Seitenschiff entlang und durch die Haupttür zur Kirche hinauseilte. [Also man muss feststellen, es sind zwanghafte Handlungen. Es ist zu bezweifeln, ob der Geist Gottes Menschen wirklich so zwingt. L.G.] Die plötzlichen kläglichen und unverständlichen Töne wurden von der ganzen Versammlung gehört und verursachten die äußerste Verwirrung.

Das Aufstehen, das Verlangen, etwas zu sehen, zu hören und zu verstehen von jeder der anwesenden 1.500 oder 2.000 Personen machte einen Lärm, den man sich leicht vorstellen kann. Mister Irving bat um Aufmerksamkeit und als die Ordnung wieder hergestellt war, erklärte er den Vorfall, von dem er sagte, dass er nicht neu sei, ausgenommen in dieser Versammlung, wo er die Sache einzuführen lange geschwankt habe. [In den Nebenräumen sowie bei den Abend- und Hausversammlungen gab es diese Phänomene schon vorher.] …

Da aber die Sache nun nach Gottes Willen zum Vorschein gekommen sei, fühle er sich verpflichtet zu gehorchen.[Gott zu gehorchen, wie er meinte. Und er legte nun spontan in diesem Gottesdienst das 14. Kapitel des Korintherbriefes aus, wo es u.a. um das Zungenreden geht]. Die Schwester kehrte eben von der Sakristei auf ihren Sitz zurück und Irving, der sie von seinem Pult aus bemerkte, sagte zu ihr mit freundlichem Tone: ‘Sei getrost, meine Schwester, sei getrost!’ Dann fuhr er in seiner Predigt fort.“ (8)

Im Abendgottesdienst desselben Tages ging es dann noch stürmischer zu. Es gab wüste Tumulte. Und dann heißt es: „Mister Irving hatte seine Predigt fast zu Ende, als eine von den Damen sprach. Das Volk hörte einige Minuten verhältnismäßig ruhig zu. Plötzlich aber fing eine Anzahl Burschen auf der Galerie an zu zischen, dann rief einer Ruhe! Und der eine dies, der andere das, bis die Versammlung, ausgenommen die, welche fest im Glauben an Gott standen, in äußerster Bewegung war … Irving erhob sich sofort und sagte: ‘Lasset uns beten!’ Er tat dies, indem er hauptsächlich die Worte: ‘O Herr, stille das Volk!’ wieder und wieder mit fester Stimme sprach.“ Von nun an wurde das Zungenreden und Prophezeien in Morgengottesdiensten zugelassen, die extra anberaumt wurden. Irving äußerte, er habe „den Verlust von Menschenleben gefürchtet und ein so kostbares Ding wolle er nicht noch einmal in Gefahr bringen“. (9)

Nun kam es zum Prozess gegen Irving, weil er diese Vorkommnisse duldete. In der Anklage berief sich die Presbyterianische Kirche auf ihre Gottesdienst-Ordnung, in der es hieß:

„Sobald der öffentliche Gottesdienst angefangen hat, hat jeder seine ganze Aufmerksamkeit darauf hinzurichten, darf nichts lesen, außer was der Geistliche verliest oder zitiert; er hat sich noch mehr vor allem Flüstern, allem Verkehr mit anderen u.s.w. und vor allem unpassenden Betragen, welches den Geistlichen oder das Volk stören oder sich und andere vom Gottesdienst abhalten könnte, zu hüten.“ (10) Es soll also völlige Konzentration auf das Wort Gottes herrschen, was auch durchaus zu begrüßen ist. Und wenn Tumulte entstanden und Irving Ursachen duldete, welche diese herbeiführten, musste er mit Konsequenzen rechnen.

Ein zweites Argument gegen Irving war mehr theologisch-grundsätzlicher Natur: Die reformierte Westmister-Konfession hält daran fest, dass die Offenbarung Gottes in Form der Bibel vorliegt und als solche abgeschlossen ist, dass also keine neuen Offenbarungen notwendig sind. So heißt es: „Der ganze Rat Gottes … ist entweder ausdrücklich in der Schrift niedergelegt oder kann durch rechte und genaue Folgerungen aus der Schrift abgeleitet werden; niemals und nirgends ist etwas dazuzusetzen weder durch neue Offenbarungen des Geistes, noch durch menschliche Traditionen.“ (11)

Irving hielt dagegen: „Wenn das das Werk des Geistes ist, wer könnte es hindern?“ Und er warf der Kirchenleitung vor, sie stelle gar nicht die Frage, ob das jetzt der Geist Gottes wirke, sondern gehe mit Formgründen gegen ihn vor. Dem könne er sich nicht fügen. „Ist dies das Werk des Heiligen Geistes, die Stimme Jesu in seiner Kirche, wer bin ich, dass ich sie hindern könnte?“, argumentierte er. (12)

Die Anklageschrift der „Trustees“ (das sind die Verantwortlichen für das Kirchengebäude), betonte, Irving würde dulden und erlauben, dass öffentliche Gottesdienste gestört werden, unterbrochen von Personen, die weder Prediger noch Lizentiaten der Kirche Schottlands seien. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, dass Frauen in der Kirche sprechen dürften. Und schließlich, dass er diese Unterbrechungen erlaubt habe. Irving bestritt diese Vorwürfe nicht, wertete die darin genannten Vorkommnisse aber völlig anders:

„Unser Morgendienst wird von ziemlich tausend Menschen besucht, und die Ordnung ist die schönste. Ich rufe den göttlichen Segen an, dann singen wir, ich lese und erkläre ein Kapitel; der Geist bestätigt die Auslegung oder gibt Zusätze und Ermahnungen, nicht zur Unterbrechung, sondern zur Stärkung des Amtes. Dann betet einer von uns Predigern, oder von den Ältesten oder anderen Brüdern, und ich halte kurze Ansprachen mit Pausen dazwischen, in denen der Geist redet durch einen, auch durch zwei oder dreie, Worte, die ich dann aufnehme, auslege, anwende, kurz, so gut mir gegeben wird, zur Erbauung der Gemeinde verwerte.“ (13)

Irving hatte also eine ganz neue Gottesdienstform eingeführt, die natürlich nicht mit der traditionellen Vorstellung der schottisch-presbyterianischen Kirche vereinbar war. Irving predigte und wurde unterbrochen und legte dann das von den „inspirierten“ Personen Gesagte aus. Der Predigtverlauf wurde also immer wieder umgelenkt durch die „direkte Geisteswirkung“.

Irvings Verteidigung konnte seine Amtsenthebung nicht verhindern. Es kam zum Prozess. Im Mai 1832 wurde ihm untersagt, in der Kirche am Regent Square weiterhin lehren zu dürfen. Und dann, wenige Tage später, mietete er einen Saal in London, in dem auch der Utopist Robert Owen seine Vorträge gehalten hatte, mit 800 Plätzen. Er hielt von nun an dort seine Versammlungen ab – oder eben auf den Plätzen und Straßen Londons unter freiem Himmel.

1833 (nach den ersten Apostelberufungen; s.u.) wurde dann ein noch schwerwiegenderes Urteil über Irving gefällt, welches zu seinem Ausschluss aus der schottisch-presbyterianischen Kirche führte. Der Grund war seine bereits erwähnte Irrlehre über die menschliche Natur Christi. Am Schluss der Prozessversammlung geschah etwas Spektakuläres: „Der Vorsitzende wollte eben das Urteil verkündigen und forderte ein Mitglied des Presbyteriums auf, zuvor ein Gebet zu sprechen, als von der Seite her, wo Irving stand, plötzlich eine Stimme erschallte: ‘Auf, zieh fort! Auf, zieh fort! Flieh hinweg! Flieh hinweg von ihr! Du kannst nicht beten! Wie kannst du beten? Wie kannst du beten zu Christo, den du verleugnest?

Du kannst nicht beten! Hinweg, hinweg! Flieh, flieh!’ Allgemeine Verwirrung folgte. Da in der Kirche nur ein Licht brannte, wusste niemand, woher die Stimme kam. Endlich hob einer das Licht in die Höhe und entdeckte den Inspirierten, der sofort die Kirche verließ, gefolgt von Irving, der noch im Gedränge rief: ‘Hinaus, hinaus! Was? Wollt ihr der Stimme des Heiligen Geistes nicht gehorchen? Wer der Stimme des Heiligen Geistes gehorsam ist, gehe hinweg!’ Hiermit hörte Irving auf, ferner Geistlicher der presbyterianischen Kirche zu sein. Er ging nach London zurück und schloss sich der kleinen ‘Apostolischen Gemeinde’ in der Newman Street an.“ (14)

Irving lebte dann allerdings nur noch kurze Zeit. Im Herbst 1834, eineinhalb Jahre später, nachdem er vorher noch zum „Engel“, also zum Bischof der apostolischen Gemeinde, ernannt worden war, ist er aufgezehrt von diesen Kämpfen mit 42 Jahren verstorben. Er wurde in der St. Mungos Kathedrale in Glasgow bestattet, wo über seiner Grabstätte auf einem Gemälde die Figur Johannes des Täufers mit dem Angesicht Edward Irvings dargestellt wurde – Johannes der Täufer, der Christus vorausgeht und ihn ankündigt.

Irving selber wurde nicht „Apostel“, ist aber ein maßgeblicher Vorläufer und Impulsgeber der Katholisch-Apostolischen und Neuapostolischen Bewegung gewesen – auch wenn sich diese Gruppen in der Folgezeit zumeist von ihm distanziert haben, da sie mit seinen teilweise extremen Lehren und Ansichten nicht identifiziert werden wollten. Insofern ist auch die zum Schimpfwort gewordene Bezeichnung „Irvingianer“ für die apostolischen Gruppen problematisch und wird von diesen strikt abgewiesen.

Dennoch hat Irving unbestreitbare Einflüsse auf die apostolische Bewegung ausgeübt. Es wären zu nennen: die Wiederentdeckung der charismatischen Gaben, die Betonung des Heiligen Geistes, die Propagierung der Geistestaufe, die Erwartung der nahen Wiederkunft Jesu Christi. Nach Ansicht von Albrecht Weber war Irving nicht „Stifter“ der Katholisch-Apostolischen Gemeinden, sondern, „Herold“, „Verkünder“ und „Propagandist“. (15) Die Stifter waren andere Personen, von denen im nächsten Abschnitt zu handeln ist.

Erste Propheten- und Apostelberufungen

Als Stifter der Katholisch-Apostolischen Kirche können der Londoner Bankier Henry Drummond und der Londoner Rechtsanwalt John Bate Cardale bezeichnet werden. Seit dem ersten Advent 1826 lud Drummond auf Anregung des anglikanischen Geistlichen Lewis Way jährlich für eine Woche 30-50 Geistliche und (nach bestimmter Art ausgewählte) Laien auf seinen Landsitz Albury Park (ein schloss in der Nähe von Guildford südwestlich von London) ein. Nach welchen Kriterien wurden diese Männer eingeladen? Nicht nach ihrer Konfession, sondern danach, ob sie eine eschatologische Naherwartung hatten und sich in dieser Hinsicht prophetisch mit der Heiligen Schrift beschäftigen wollten. Unter diesen Eingeladenen war auch Edward Irving.

Henry Drummond war derjenige „Prophet“, der im Gefolge dieser Konferenzen den ersten „Apostel der Neuzeit“ ausgerufen hat, nämlich John Bate Cardale. Drummond (1786-1860) war nicht nur als Bankier, sondern auch als Parlamentsabgeordneter einflussreich, ein Aristokrat mit großem Vermögen. Er hatte schon vor seiner „apostolischen“ Zeit viel für die Reichgottesarbeit getan, und zwar hatte er zwei Missionsgesellschaften gegründet. 1818 hatte er die „Festlandsgesellschaft zur Bekämpfung des Unglaubens“ initiiert. Diese schickte fünfzehn Jahre lang Missionare in mehrere europäische Staaten. Von 1818 bis 1836 ist ihre Aktivität belegt.

Man wollte gegen den Unglauben kämpfen in Frankreich und Italien, gegen den Sozinianismus und Arianismus in der Reformierten Kirche, gegen die Neologie und den Rationalismus sowie gegen den Spiritismus. Das zweite Missionsunternehmen, das Drummond begründet hatte, war die ungefähr auch in dieser Zeit ins Leben gerufene „Society for Promoting Christianity Among the Jews“ („Gesellschaft zur Verbreitung des christlichen Glaubens unter den Juden“). Diese setzte sich ein für die endzeitliche Bekehrung des Volkes Israel zu Christus.

Und nun hatte Drummond seit 1826 ausgewählte prophetisch-eschatologisch interessierte Geistliche und Laien eingeladen, vor allem einflussreiche Personen aus dem gehobenen Bürgertum und der Aristokratie. Und diese beschäftigten sich bei den Albury-Konferenzen u.a. mit folgenden Themen:


Die Ergebnisse, welche die Albury-Konferenzen hervorbrachten, lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen: (16)

Der letzte Punkt ist sicherlich der problematischste. Die Albury-Konferenz löste sich denn auch auf, als die Katholisch-Apostolische Kirche entstand. Aber sie war die Keimzelle dafür. Der Pfarrer Hugh MacNeil, seit 1822 Rektor in der anglikanischen Gemeinde von Albury, hatte als Chairman fungiert. Obgleich er intensiv die Wiederkunft Christi predigte und auch das Gebet um die Wiederherstellung der Fülle urchristlicher Geistesgaben empfahl, änderte er später seinen Sinn und zog sich vollends vom Kreis um Drummond zurück, als die „apostolische“ Lehre sich entwickelte.

Wie kam es zur „ersten Apostelberufung der Neuzeit“? Die „charismatisch erweckten“ waren am Anfang der Dreißiger Jahre zunehmend aus ihren Kirchen ausgeschlossen worden, auch Cardale durch seinen Ortsgeistlichen MacNeil. Er und Drummond konnten nicht mehr in ihre Gemeinden gehen. Sie zogen sich zurück.

Und nun geschah folgendes: Henry Drummond wurde am 20. Oktober 1832 durch eine „Prophezeiung“ zum „Hirten“ der Gemeinde Albury berufen, die damals etwa fünfzig Personen zählte. Es war eine Art Hausgemeinde. Aber Drummond trat dieses Amt des Hirten nicht an, weil er überzeugt war, dass ihm noch die Ordination, die Amtseinsetzung durch Handauflegung (mit Geistübertragung) fehle.

Nun geschah es aber, dass am 31. Oktober 1832 der Londoner Rechtsanwalt John Bate Cardale durch ein „prophetisches Wort“ als „Apostel“ angesprochen wurde. (Die Amtsbezeichnungen der Katholisch-Apostolischen Kirche, der Neuapostolischen Kirche und ähnlicher Gemeinschaften sind im folgenden immer in Anführungsstrichen zu denken.) Cardale hatte gebetet, dass die Versammlung im Hause Drummonds angetan werde mit der Kraft aus der Höhe. „Während er da noch kniete, hingenommen im Geiste, erhob sich Drummond und redete ihn an mit unbeschreiblicher Macht und Würde: ‚Bist du nicht ein Apostel! Warum spendest du nicht den Heiligen Geist?`“ (17) Er fügte dann noch manches hinzu von der „Fülle der Gnade“, die der Herr auf das Apostelamt gelegt habe und weiteres. Aber das war noch nicht die letztgültige Berufung. Man traf sich wieder, eine Woche später, am 7. November 1832, in der gleichen Wohnung, in dem schloss, und der Ruf wiederholte sich.

Und nun, so wird berichtet, „ereignete sich einer jener unheimlichen Zwischenfälle, durch welche die Reinheit der Eingebung bedroht und schließlich nur bewährt wurde.“ Was geschah? „Ein junger Arzt von London weissagte anscheinend harmlos, imgrunde nicht aus Gott, bis Drummond, dem die Gabe der Geisterunterscheidung mit durchdringender Schärfe beiwohnte, das verborgene Wirken des Argen (des Teufels) erkannte und in Geisteskraft dem Sprecher Schweigen gebot.

Dann aber, da Cardale eingefallen war mit Flehen im Geiste um Befreiung der Gebundenen, trat (der Prophet) Taplin vor ihn mit gewaltigem Rufen: ‘So schilt doch den Satan, da du ein Apostel Christi bist! Treibe die bösen Geister aus und befreie Gottes Kinder!’ Und im weiteren Fluge wies die prophetische Rede auf die ewige und unveränderliche Gnade, die durch das apostolische Amt den Argen aus allen Grenzen der Kirche bannen und Seine Auserwählten vom Übel erretten, ja mit den Schätzen des Himmels zieren werde im Heiligen Geiste, mit welchem Gott seine Kinder versiegeln wolle von nun an.“ (18)

Der 30-jährige Londoner Rechtsanwalt Cardale wurde also 1832 zum ersten „Apostel der Neuzeit“ oder „Endzeit“ berufen – zunächst von seinem Freund Henry Drummond und dann bestätigt von dem späteren „Pfeilerpropheten“ Taplin. Nun nahm die Geschichte ihren Lauf. Am Heiligabend 1832 ordinierte Cardale den Prediger William Caird (den Ehemann von Maria Campbell; s.o.) zum Evangelisten und zwei Tage später Henry Drummond zum Hirten. Dieser erhielt nun seine ersehnte Ordination, und damit begann der Aufbau einer priesterlichen Ämterordnung oder Hierarchie. Edward Irving übrigens befand sich im Blick auf seine überragenden Fähigkeiten in einer gewissen Demütigung, weil er nicht zum Apostel berufen wurde, sondern nur zum Bischof. Er starb dann auch bald darauf (s.o.). Aber gleichzeitig mehrten sich die Berufungen zu Apostelämtern. Folgende Männer wurden zu Aposteln berufen:

Damit war im Sommer 1834, also eineinhalb Jahre nach der Berufung Cardales, die Zahl „Sechs“ erreicht. Das Ziel blieb aber die Vollzahl, die „Zwölf“ – analog zum Apostelkreis um Jesus. So wurde Cardale vom „Geist“ angewiesen, mit dem Propheten Taplin die Gemeinden zu besuchen, die sich immer mehr bildeten, damit Gott weitere Apostel bezeichnen solle. Und so wurden im Jahre 1835 sechs weitere Männer zu Aposteln berufen: der Schriftsteller John Owen Tudor, der ehemalige anglikanische Pfarrer Henry Dalton, der schottische Adlige und Rechtsgelehrte Thomas Carlyle, der adlige Gutsbesitzer und Hauptmann Francis Sitwell, der ehemalige schottische presbyterianische Geistliche William Dow und der Apotheker und Arzneimittelgroßhändler Duncan Mac Kenzie. Der zuletzt berufene Apostel MacKenzie gilt als der „Judas“ in diesen Kreisen, weil er fünf Jahre später seine Apostelberufung zwar weiterhin anerkannte, aber sich von der Amtsausübung wegen Auseinandersetzungen zurückzog. Das sind also die zwölf „Apostel der Endzeit“ aus der Katholisch-Apostolischen Bewegung.

Aussonderung der Apostel

Ein weiteres wichtiges Datum war der 14. Juli 1835. Nachdem alle zwölf Apostel „bezeichnet“ waren, wurden sie an diesem Datum „ausgesondert“. Die Aussonderung war die Amtseinführung durch die Handauflegung sämtlicher in London bereits eingesetzten „Engel“ und „Erzengel“ (Bischofsämter). Es handelte sich dabei um Bischöfe der sieben Gemeinden in London (symbolische Siebener-Struktur), die zumeist nach Stadtteilen benannt waren: Zentralgemeinde, Bishopsgate, Southwark, Chelsea, Islington, Paddington und Westminster. Als die Apostel ausgesondert waren, zogen sie sich ein Jahr lang nach Albury auf den Schlosssitz von Drummond zurück, um sich auf ihre Aufgabe vorzubereiten, die Welt mit der neuen Apostellehre zu durchdringen.

Bei den katholisch-apostolischen Apostelversammlungen führte der „Pfeilerapostel“ Cardale als Erstberufener zwar den Vorsitz, aber es gab noch kein Stammapostolat mit einer absoluten Regierungsgewalt wie später in der Neuapostolischen Kirche. Vielmehr galt Cardale als „Gleicher unter Gleichen“. Taplin war „Pfeiler der Propheten“, und es gab je einen Pfeiler der Evangelisten und Hirten, die „Gleiche unter Gleichen“ sein sollten.

In diesem Jahr der Stille trafen sie sich täglich zu Bibelbetrachtungen, die allerdings mithilfe von sieben Propheten betrieben wurden, d. h. die Propheten erschlossen den Aposteln durch ihre Eingebungen den „Geist der Schrift“, oft auch allegorisch. Diese zwölf Apostel repräsentierten nach ihrer eigenen Vorstellung die zwölf Stämme des „geistlichen Israels“, also der Gemeinde. Gott sollte die Christenheit unter ihnen, die allesamt Bewohner der Britischen Inseln waren, aufteilen. Deshalb wurde die Christenheit in zwölf Stämme gegliedert und jedem Apostel ein Stamm zugeteil

Die kirchliche Herkunft dieser „Apostel“ war übrigens unterschiedlich. Die meisten waren Anglikaner. Es gab aber auch einen Freikirchlichen (Henry John King-Church), Independisten, Kongregationalisten und Schottisch-Presbyterianische.

Carlyle berichtet offen über die Probleme des Anfangs: „Niemand wusste, was ein Apostel sei, welche Pflichten und Verpflichtungen mit diesem Amte verbunden seien. Wir mussten alles wie Kinder lernen, wir mussten alle in die Schule gehen, und manchmal in eine sehr schwere Schule. Nun entstand die Frage, wie das apostolische Amt ausgeübt werden sollte. Wir sahen: Alle anderen Ämter werden durch Apostel eingesetzt, aber die Apostel allein durch den Herrn.“ (19)

Die Apostel also fürchteten ihre Unwissenheit. Wie Kinder mussten sie erst lernen. Anfangs hatten sie ja die Vollzahl noch nicht erreicht, lebten zum Teil noch in ihren alten Gemeinden – und das Apostelamt bedeutete einen riesigen Bruch in ihrem Leben. Mit der Aussonderung war nun ein neuer Schritt erreicht. Sie waren von allen bisherigen Verpflichtungen befreit und für ihren Dienst freigestellt.

Das Testimonium der Apostel

Auf die weiteren Tätigkeiten der katholisch-apostolischen Apostel kann ich aus Platzgründen nicht mehr eingehen. Es sei lediglich erwähnt, dass sie sich seit 1835 mit verschiedenen Aufrufen („Testimonium“) an geistliche und weltliche Führer der Erde wandten, um auf die Endzeit, die zu erstrebende Einheit und Sammlung der Christen und das dazu dienliche wiederaufgerichtete Apostelamt hinzuweisen. Die Resonanz bei den Adressaten war äußerst gering, die Reaktion fast durchweg ablehnend, da keiner bereit war, die Autorität dieser Männer als „Apostel“ anzuerkennen. Nachfolgend zur Illustration ein Ausschnitt aus dem „Zeugnis der Apostel an die geistlichen und weltlichen Häupter der Christenheit“ aus dem Jahre 1836:

„Und schon hat Er (Gott) sich aufgemacht, Sein Heiligtum wieder zu bauen, die zerfallene Hütte Davids, Seinen Wohnsitz in Zion. Von da geht Sein Zeugnis an alle Getauften, ausgerichtet von zwölf Männern, die durch den Heiligen Geist zu Aposteln berufen und aus den Orten ihrer Geburt ausgesondert worden sind für den Dienst Christi in allen Landen. Ihr Amt wird es sein, durch den Glauben und das anhaltende Gebet des Volkes Gottes allen Getauften den Segen auszuspenden, den Jesus, der Apostel Seiner Kirche, durch Apostel geben möchte …

Dies ist keine neue Sekte: es ist Gottes Werk, um Seinen Segen der ganzen Christenheit, der ganzen getauften Welt, mitzuteilen … In der ganzen Christenheit, Gesetzlosigkeit: hier Unterwerfung unter die Autorität; außerhalb, Spaltung und Sekten: hier Ein Leib, einig im Glauben, mit Lehrern, die einmütig dasselbe lehren. Draußen, Schulen des Antichrists unter dem Vorsitz von Häuptern, die sich das Volk selbst erwählt hat: hier, Ein Leib, regiert durch Ämter, die nicht vom Volke eingesetzt, sondern von Gott gegeben sind.“ (20)

Aussterben der Apostel und Krise

1855 starben innerhalb kurzer Zeit drei der ersten „Apostel der Neuzeit“: Thomas Carlyle, William Dow und Duncan MacKenzie. Das war für die Katholisch-Apostolische Kirche eine Überraschung – hatte man doch zunächst noch die Wiederkunft Christi zu Lebzeiten aller Apostel erwartet. Nun aber stellte sich die Frage, ob man neue Apostel in diese Ämter berufen solle, und man entschied bereits damals bei den Katholisch-Apostolischen, keine neuen Apostel zu berufen. Die Bewegung, die das jedoch tat, war die spätere Neuapostolische Kirche mit ihren Vorläufer-Gruppen. Wie kam es dazu?

Heinrich Geyer und die „Allgemeine Christliche Apostolische Mission“

Neue Apostelberufungen

Der „Vater“ der neuen – deutschen – Apostel war ein sogenannter „Prophet“ aus der Katholisch-Apostolischen Bewegung, und zwar ein Prophet, der auch an der Seite von Woodhouse war, dem zuletzt noch lebenden Apostel der Katholisch-Apostolischen Kirche. Dieser Prophet, der sehr einflussreich war, hieß Heinrich Geyer. (21) Er ist im Grunde der Mann, der den Impuls gab zur Entstehung der Neuapostolischen Gemeinde oder Kirche, die damals allerdings noch nicht so hieß. Die spätere Neuapostolische Kirche ist wieder eine Abspaltung von der Gruppe, die Geyer begründet hatte. Die historische Linie lautet: Katholisch-Apostolisch Kirche, „Geyerianer“ („Allgemeine Christliche Apostolische Mission“), und dann die Neuapostolischen.

Wie ist die Entwicklung im Einzelnen verlaufen? Wir betrachten zunächst die Persönlichkeit Heinrich Geyers.

Heinrich Geyer, geboren 1818 in Hardechsen bei Göttingen, war Gerichtsschreiber und Volksschullehrer in Wollbriehausen bei Ußlar. Er hatte Kontakt mit der Bewegung Johann-Hinrich Wicherns (Innere Mission). In Wollbriehausen hatte er das Heim Bethesda für verwahrloste Kinder gegründet. Um 1848/49 kam er in Kontakt mit der Katholisch-Apostolischen Kirche, also mit 30 Jahren, indem er irrtümlich mit der Post eine Schrift des ehemaligen katholisch-apostolischen Pastors Albert Köppen zugesellt erhielt. Als er sich der Katholisch-Apostolischen Kirche anschloss und zu ihr bekannte und auch im Schuldienst öffentlich für sie eintrat, wurde er entlassen.

Einige Jahre später wurde er als Korrektor bei der Neuen Preußischen Zeitung in Berlin angestellt von dem Direktor Herrmann Wagener, der zur Katholisch-Apostolischen Bewegung gehörte. 1849 wurde er Unter-Diakon, 1850 wurde er Priester. Seine Priesterweihe erhielt er übrigens zusammen mit dem später auch einflussreichen Apostel Friedrich Wilhelm Schwarz durch den englischen Apostel Thomas Carlyle. 1852 wurde er Bischof („Engel“) in der Katholisch-Apostolischen Kirche. Geyer hat angeblich die Gaben der Prophetie, der Glossolalie und der Krankenheilung besessen. Er war äußerst einflussreich – nicht nur publizistisch, sondern auch innerhalb der Katholisch-Apostolischen Kirche im deutschsprachigen Bereich. Als maßgeblicher „Prophet“ im „Stamm Norddeutschland“ hat er fast alle Priester und Engel in Norddeutschland zwischen 1852 und 1862 berufen, auch einige in Süddeutschland und in der Schweiz.

1860 kam es zu einem entscheidenden Ereignis in Albury, auf dem Sitz des Bankiers Drummond, der zusammen mit Cardale ja der Begründer der Katholisch-Apostolischen Bewegung war. Am 30. Mai 1860 fand eine Konferenz auf dem Gut in Albury statt – und da weissagte der Prophet Heinrich Geyer folgendes: „Sehne dich nach den Aposteln, welche deine Stühle verlassen haben! Der Herr gibt dir zwei Apostel auf die leeren Stühle zum Unterpfand, dass er auch die übrigen noch besetzen wird, dass eure Schultern nicht zerbrechen, nämlich: Charles Böhm und William Caird als Apostel, denn sie sind als treue Mitarbeiter erfunden worden.“ (22)

Geyer berief unter Behauptung einer direkten angeblichen Eingebung des Heiligen Geistes zwei Mitglieder der Katholisch-Apostolischen Kirche als neue Apostel anstelle der bereits Verstorbenen. Das war problematisch, denn die anderen Apostel hatten sich ja schon früher die Meinung gebildet, dass man keine neuen berufen wollte. Auch jetzt berieten sich die noch lebenden Apostel in Albury. Woodhouse als der Längstlebende hat sich immer geweigert, neuberufene Apostel anzuerkennen. Woodhouse fragte Geyer bereits nach seiner Prophezeiung im Jahre 1860, als insgesamt noch sieben Apostel von den Erstberufenen lebten:

„Haben Sie die Meinung, dass diese zwei Männer jetzt wirklich Apostel sind?“ Geyer antwortete sehr vorsichtig: „Die Apostel haben verordnet, dass die Propheten kein Urteil haben sollen über das Ergebnis ihrer Weissagungen, sondern die Apostel haben das Urteil zu fällen. Ich weiß nur, dass dieses Wort vom Heiligen Geist war, wofür ich verantwortlich bin. Alles übrige überlasse ich den Aposteln..“ Darauf Woodhouse: „Die Apostel verwerfen diese und jede andere Rufung von Aposteln, weil die jetzigen Apostel ausreichen werden bis zur Wiederkunft Christi.“ (23)

Diese Antwort offenbarte eine starke Naherwartung der Wiederkunft Jesu Christi. Die Apostel hatten die Vorstellung: Wir Zwölf, zumindest der Rest von uns, wird leben, bis der Herr wiederkommt.

Geyer als Prophet hatte grundsätzlich das Recht, neue Apostel zu berufen. Das stand den Propheten zu, denn auch der erste, Cardale, war ja von Drummond prophetisch berufen worden. Aber nun wurde die Notwendigkeit neuer Apostelberufungen verneint. Das Recht bestand, aber die Notwendigkeit wurde verneint, weil der Herr ja noch zur Lebzeiten der ersten zwölf Apostel der Neuzeit wiederkommen würde – eine Erwartung, die dann freilich nicht eingetroffen ist.

Im Hintergrund stand auch Offenbarung 4, 4, wo von den „24 Ältesten vor dem Throne Gottes“ die Rede ist. Man sagt in der Katholisch-Apostolischen Bewegung, dass die ersten Apostel der Alten Kirche zwölf sind und die Apostel der Endzeit auch zwölf sind, und das ergibt zusammen diese „vierundzwanzig Ältesten“. Deshalb könne man nicht mehr Apostel berufen.

Die Apostel in Albury waren also fest entschlossen, keinen Apostel mehr aufzunehmen in ihren Kreis. In der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ heißt es aus der Sicht der heutigen Neuapostolischen hierzu: „Sie haben durch dieses kurzsichtige und menschliche Verhalten bewiesen, dass sie ebenso fehlbare und schwache Menschen waren wie die ersten Apostel der Urkirche, trotz ihrer hohen Stellung im Reich Gottes.“ (24) Plötzlich wird die Vollmacht der katholisch-apostolischen Apostel sehr reduziert, weil sie eben hier nicht im Sinne der späteren Neuapostolischen gehandelt haben.

Woodhouse seinerseits sagte damals über Geyer: „Einige Worte durch Herrn Geyer gesprochen und von ihm selbst so gedeutet, sind von den Aposteln teils ganz anders erklärt, teils sofort als unecht abgewiesen worden.“ (25) Also die Apostel beanspruchen hier die Vollmacht, die Lehre letztendlich zu entscheiden, ob sie zutrifft oder nicht.

Nun gab es weitere Schritte. Die von Geyer berufenen „neuen Apostel“, Caird und Böhm, wurden von den alten Aposteln abgelehnt. Sie wurden allerdings, um die Sache gütlich zu lösen und eine Spaltung zu vermeiden, als Apostel-Co-Adjutoren eingesetzt, als Apostel-Helfer oder -Stellvertreter, welche aber nur im Auftrag der lebenden Apostel handeln durften. Wenn ihr jeweiliger beauftragender Apostel starb, war auch ihr Auftrag zu Ende.

Aber Geyer gab nicht auf. 1862, zwei Jahre später, war der Pfeiler-Prophet Oliver Taplin gestorben. Nun bekam Geyer einen noch größeren Einfluss. Er war jetzt auf dem Höhepunkt seiner Amtstätigkeit.

Nun weilte er zusammen mit Woodhouse, Böhm und dem Marburger katholisch-apostolischen Professor Thiersch in Königsberg, Kaliningrad, wo ein Grundstein für eine neue Kapelle gelegt wurde. Am 10. Oktober 1862 war Geyer abends in der Wohnung zusammen mit dem Baumeister und katholisch-apostolischen Priester Rudolf Rosochacky. Geyer berichtet:

„An demselben Abend, den 10. Oktober 1862, lag der Geist des Herrn so schwer auf mir, dass ich körperlich fast erdrückt wurde. Da mit einemmale kam der Geist Gottes mit Kraft über mich und rief den mit anwesenden Diener Rosochacky zum Amte eines Apostels. Jedoch wurde ihm gesagt, er solle sich nicht in die Angelegenheiten der bisherigen Apostel mengen, sondern ruhig abwarten die Zeit, da Gott ihn vor größerer Versammlung vieler Zeugen bestätigen würde, indem mit ihm eine neue Reihe der Zwölfzahl beginnen würde. Nun, diese Berufung war in aller Ruhe um Mitternacht geschehen, auch von dem Berufenen voll und freudig anerkannt. Weil die öffentlichen Berufungen verworfen waren, bestand sie vorläufig zu Recht; waren doch in England in den vierziger Jahren auch nur im Privatzimmer die Apostel und manche andere Ämter berufen.“ (26)

Geyer spielte ein Doppelspiel. Weil die anderen Berufungen abgelehnt worden waren, berief er jetzt Rosochacky heimlich nachts um Mitternacht in dessen Wohnzimmer.

Woodhouse erfuhr einige Wochen lang nichts von diesen Vorgängen. Geyer konnte zunächst unbehelligt weiter in den Gemeinden wirken. Allerdings kam es dann doch zum offenen Konflikt, aber – wie nach außen hin gesagt wurde – nicht in erster Linie wegen dieser heimlichen Apostelberufung, sondern weil Geyer eine Lehre vertrat, die abwich von der offiziellen katholisch-apostolischen Lehre. Und zwar lehnte Geyer die Vorentrückung ab, die bei den Katholisch-Apostolischen Gemeinden vertreten wurde – also die Ansicht, dass die auserwählten Heiligen oder Gläubigen vor der Trübsalszeit entrückt werden. Das führte nun zu Problemen.

Im November 1862 verkündete Geyer im Gottesdienst in Berlin, „dass der Antichrist in den sieben Greueln vor der Gemeinde offenbar werden solle“. Und damit stellte er die Vorentrückung infrage. Geyer wurde aufgefordert, dies zurückzunehmen, doch weigerte er sich. Er betonte, dass dann, wenn ihm das verboten würde, die Autorität der Apostel über die Autorität der Bibel gestellt würde. Er führte also die biblische Autorität gegen die Autorität der neuen Apostel ins Feld und wollte deren Autorität nur soweit anerkennen, „soweit sie mit der Schrift übereinstimmen.“ (27)

Es gab also hier eine Grundsatzdebatte, die immer wieder auflebte, auch bei den späteren Spaltungen der Neuapostolischen – und zwar die Debatte, ob die Heilige Schrift (Bibel), die neuen Apostel oder die neuen Propheten den Vorzug bezüglich der Autorität haben sollen. Diese Debatte wurde bei den apostolischen Gruppen immer wieder zugunsten der neuen Apostel entschieden.



Ausschluss und Neubeginn

Im Dezember 1862 wurde Geyer von seinem Dienst als Prophet der Katholisch-Apostolischen Gemeinden suspendiert. Auch die Sache mit Rosochacky war inzwischen bekannt geworden, und es kam nun zum Beginn der späteren Neuapostolischen Bewegung in Hamburg ab 1862. Die Hamburger Gemeinde ist praktisch die Kernzelle, aus der dann auch die Neuapostolische Bewegung hervorwuchs. 1862 zählte sie ungefähr 150 Mitglieder und stand unter der Leitung des Bischofs oder Engels Friedrich Wilhelm Schwarz (oft auch „Schwartz“ geschrieben). Der wiederum war dem Berliner Bischof oder Engel Carl Rothe unterstellt.

Geyer informierte Schwarz im Dezember 1862 mit einem Brief über seine Entlassung und teilte nun auch Schwarz die Berufung Rosochackys zum Apostel mit. Schwarz ließ daraufhin Rosochacky und Geyer nach Hamburg zu sich kommen und stellte sie am 4. Januar 1863 vor die versammelte Gemeinde. Schwarz legte sein Bischofsamt unter dem Engel Rothe nieder und nahm Rosochacky als seinen Apostel an, dem er sich nun unterstellte. Er entzog sich also seinem Vorsitzenden in Berlin, dem dortigen Bischof und setzte sich selber unter den von Geyer berufenen Apostel Rosochacky. Schwarz fragte die Hamburger Gemeinde: „Wer diesen Bruder als Apostel annehmen will, der stehe auf!“ Alle erhoben sich, bis auf fünf Glieder. (28) Rosochacky nun hob die Exkommunikation Geyers auf und setzte alle Amtsträger wieder in ihre Ämter ein.

Und nun reiste der Berliner Engel oder Bischof Rothe nach Hamburg. Man wollte ihm den Zugang zum Versammlungshaus verwehren, da seine Autorität für die Hamburger Gemeinde ja beendet sei. Aber er ging trotzdem hinein und erklärte alle Gottesdienste und Berufungen für null und nichtig. Aufschlussreich ist nun, was Rothe zu den Hamburger Vorgängen sagte:

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Was ist die Frucht dieser neuen Apostel und Propheten? Das Fleisch hat durch sie erlangt, was es begehrte. Sie haben sich gegenseitig mit Würden beschenkt und der Gemeinde mit großen Dingen geschmeichelt. Obwohl sie heuchlerisch vorgeben, sich nicht von den bisherigen Ordnungen des Herrn trennen zu wollen, haben sie sich tatsächlich geschieden, ja gegen dieselben empört. Unter der Decke der Heimlichkeit, der Lüge und List ist dieses neue Apostel- und Prophetentum in die Erscheinung getreten. Was wird sein Ende sein? Der Herr wird sie richten.“ (29)

Dies sagt also Rothe über die Entstehung dieser Vorläuferbewegung der Neuapostolischen. Wir sollten auch heute die damaligen Diskussionen bedenken.

Nun allerdings kam es zu einem weiteren Schlag für Schwarz und Geyer: Rosochacky schwenkte um. Der erstgerufene Apostel nach den von Geyer vorgeschlagenen und wieder fallengelassenen Amtsträgern Caird und Böhm legte sein Apostelamt nieder – und zwar beeinflußt von seiner Frau und den Amtsträgern in Königsberg. Nachdem er dorthin zurückgekehrt war, redeten diese ihm seine Berufung durch Geyer aus und sagten, er solle sich doch weiterhin der Autorität der englischen Apostel unterstellen. Das, was da heimlich geschehen sei, sei nicht richtig und er sei ein Opfer teuflischer Verführungskünste geworden.

In einem Brief vom 17. Januar 1863 bereits teilte er Schwarz in der Hamburger Gemeinde seinen Widerruf mit. Er schrieb:

„Als die Gemeinde zu Hamburg die Kunde vernahm, dass ein weiterer Apostel berufen sei, da war ihre erste Tat Empörung gegen die ihr von Gott gegebene Ordnung. Unmöglich war dies ein Wirken des Heiligen Geistes. … Wer hat der Gemeinde das Recht gegeben, mich als Apostel anzuerkennen und als solchen mich zu proklamieren? Wäre meine Berufung eine göttliche gewesen, so hätte kein Widerspruch mit den übrigen Aposteln entstehen können, denn ein Apostel Jesu Christi kann nicht den andern Apostel des Herrn hinauswerfen und absetzen helfen. Geyer war exkommuniziert (also ausgeschlossen), nicht nur aus der Gemeinde zu Berlin, sondern auch aus der Kirche Christi, und als solchem war ihm alle Befugnis und alle Befähigung genommen, eine Aussonderung sowohl als auch die Berufung einer Gemeinde auszusprechen. Der Heilige Geist hat ihn in seinem Zustand nicht geleitet.“ (30)

Nach dieser Widerrufserklärung wurde Rosochacky wieder in die Katholisch-Apostolische Gemeinde aufgenommen, und zwar am 5. April 1863, bereits einen Monat später, und bald darauf zum Bischof oder Engel geweiht.

Nun waren Geyer, Schwarz und die Hamburger in einer schwierigen Lage. Man suchte zunächst wieder Anschluss an die Berliner Gemeinde, aber das amtliche Verfahren gegen Geyer und Schwarz war bereits eingeleitet. Nach Geyer wurde jetzt auch Schwarz exkommuniziert. Woodhouse exkommunizierte Geyer und Schwarz zunächst inoffiziell in der Sakristei der Berliner Gemeinde und dann auch offiziell in einem Brief vom 6. Februar 1863, adressiert an die Hamburger Gemeinde, was nun auch die formelle Trennung und – man kann sagen – die Geburtsstunde der neuapostolischen Richtung bedeutet hat. Dieser Ausschlußbrief hat die Trennung offiziell besiegelt.

Nun ging die Hamburger Gemeinde unter Schwarz und Geyer ihren eigenen Weg. In Abwesenheit Geyers wurde durch einen Diakon prophetisch der Hamburger Priester Carl Wilhelm Preuß zum Apostel berufen. Geyer allerdings hatte nachher große Probleme gerade mit diesem Preuß, den er selber gar nicht berufen hatte. Es gab also auch in der neuen Gruppe von Anfang an Spannungen, sodass Geyer sogar sagen konnte:

„ … Ich konnte geschehene Dinge nicht ungeschehen machen. Es war im Wege der Unordnung geschehen, so wie Ruben seines Vaters Jacob Bette bestiegen, so konnte auch ich ein solch uneheliches Kind nicht tödten (sic!). Wir mussten nun unser Schicksal tragen, bis am 25. Juli 1878 dieser Bruder Preuß starb. Ich schweige von all dem Leiden, welches uns während der Zeit widerfuhr.“ (31)

Man bemerkt das Menschlich-Allzumenschliche dieser „Apostelberufungen“ überdeutlich. Ein „uneheliches Kind“, das man am liebsten „töten“ würde – so drückt Geyer sich über den ersten Apostel aus, der in seiner Abwesenheit berufen wurde! Er musste ihn dann zähneknirschend anerkennen.

Preuß, ein Tischlergeselle aus Matzdorf, der 1854 in Berlin zum Priester der katholisch-apostolischen Gemeinden geweiht worden war, war nun berufen als Apostel für Norddeutschland und Skandinavien, den Stamm Ephraim. Als Apostel stand er im Schatten von Geyer. Wie hieß denn jetzt diese selbständig gewordene Hamburger Gemeinde? Sie nannte sich zunächst „Allgemeine Apostolische Gemeinde“ und bald darauf, noch in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, „Allgemeine Christliche Apostolische Mission“. Friedrich Wilhelm Schwarz reiste später nach Amsterdam in Holland aus. Dort missionierte er und gründete die „Apostolische Zendings Gemeemte“ („Apostolische Missionsgemeinde“).

Am 30. Oktober 1864 wurden von Geyer weitere Apostelberufungen vorgenommen, um die Sechszahl zunächst einmal vollzumachen. Der Kohlenmakler Peter Wilhelm Louis Stechmann wurde Apostel für Ungarn, der Schlosser Johann Christoph Leonhard Hohl Apostel für Hessen, der Korbmacher, Lehrer und Polizeiwächter Heinrich Ferdinand Hoppe Apostel mit dem Ziel für USA, der Schuhmacher und Porzellanhändler Johann August Ludwig Bösecke Apostel für Schlesien …

Am zweiten Pfingstfeiertag 1863 wurde Schwarz selber zum Apostel berufen, und zwar nicht nur durch Heinrich Geyer, sondern durch „viele weissagende Gotteskinder“ aus der Gemeinde, wie es in einer neuapostolischen Schrift (32) heißt. Und warum wird in dieser Schrift betont, dass Schwarz nicht nur durch Geyer berufen worden ist? Weil Geyer sich später von der neuapostolischen Entwicklung getrennt hat. Also ist es den heutigen Neuapostolischen wichtig zu betonen, dass nicht nur Geyer, sondern auch andere Friedrich Wilhelm Schwarz berufen haben, der als erster führender Vertreter der neuapostolischen Bewegung angesehen wird.

Zwischen Geyer und dem unabhängig von ihm berufenen Apostel Preuß kam es übrigens aus vier Gründen zu Spannungen und später auch zur Spaltung. Damit müssen wir uns jetzt beschäftigen.

  • 1. Geyer hatte als Prophet immer wieder Probleme mit den Aposteln und ihrer Autorität. Er wollte seine Prophetenautorität, seine direkten Eingebungen über die apostolische Autorität stellen oder zumindest als gleichwertig betrachten, sich ihr jedenfalls nicht unterwerfen, da er sich ja als derjenige fühlte, der die neue Reihe der Apostel (außerhalb der Katholisch-Apostolischen Kirche) initiiert hatte.
  • 2. Er war noch nicht so kirchenfeindlich und separatistisch eingestellt wie die späteren Neuapostolischen. Ihm wurde von seinen Gegnern eine ökumenische, ja geradezu kirchenfreundliche Gesinnung vorgeworfen.
  • 3. Die Vorentrückung lehnte er ab.
  • 4. Er lehrte, dass alle Christen Erstlinge seien und darum die Versiegelung nicht notwendig wäre.

Wie kam es zur Spaltung zwischen Geyer auf der einen Seite und Schwarz sowie dem späteren einflussreichen Apostel und ersten Stammapostel Fritz Krebs auf der anderen Seite?

Am 31. März 1878 berief Geyer in Abwesenheit und ohne Kenntnis des todkranken Apostels Preuß bereits dessen Nachfolger in einem Gottesdienst, nämlich den Kohlenhändler Johann Friedrich Güldner als Apostel für Norddeutschland und Skandinavien. Kurz darauf starb Preuß. Aber nun hatte sich eine starke Oppositionsgruppe gegen Geyer und den von ihm berufenen Apostel Güldner gebildet. Es kam zum offenen Austrag dieser Differenzen in einem sogenannten Gottesdienst am 4. August 1878, wo es tumultartige Vorgänge gab. Und zwar widersprach eine starke Gemeindegruppe der Einsetzung Güldners zum Apostel durch Geyer. Diese Oppositionsgruppe wurde von dem Hirten Eduard Wichmann geführt, den Preuß noch auf seinem Sterbebett als Nachfolger eingesetzt hatte. Die rechte Hand Wichmanns war der spätere einflussreichste Mann der Neuapostolischen Bewegung, Fritz Krebs. Die Folge war, dass Wichmann Geyer für abgesetzt erklärte. Daraufhin verließ Geyer, allerdings mit dem größten Teil der Gemeinde, den Saal und es kam zur Trennung.

Aus der Hamburger Restgemeinde, die blieb, ging die Neuapostolische Gemeinde hervor (sie trug zunächst den Namen „Allgemeine Apostolische Mission“). Der größere Teil der Gemeinde aber hatte sich vorher abgetrennt. Geyer hat dann wieder eine eigene Gemeinde gegründet, die den Namen „Allgemeine Christliche Apostolische Mission“ beibehielt. Es ist aufschlussreich, dass Güldner, der von Geyer berufene Apostel, aber auch Wichmann, im Apostelverzeichnis der Neuapostolischen Kirche nicht geführt werden. Die von Geyer und Güldner geleitete Gruppe konnte sich einige Jahrzehnte (namentlich bis Geyers Tod im Jahre 1896) halten und sogar Zuwachs verzeichnen, ging dann aber kontinuierlich zurück. Heute ist sie ausgestorben.

Wichtig ist nun aber die Tatsache, dass Geyer mit seinen Anhängern historisch eine Zwischenposition einnimmt, und zwar steht er mit seiner „Allgemeinen Christlichen Apostolischen Mission“ zwischen Katholisch-Apostolischer Kirche und Neuapostolischer Kirche.

Nun wollen wir einige Zitate aus der Sicht der heutigen Neuapostolischen Kirche zu diesen Vorgängen hören. In der Biografie über Fritz Krebs heißt es, dass Apostel Preuß, gerade 51 Jahre alt, kurz vorher seine Frau verloren hatte und dass ihn das sehr bedrückte; zudem litt er an Magenkrebs. Dann wird ausgeführt:

„Apostel Preuß sorgte sich aus gutem Grund. Heinrich Geyer, der Prophet, hatte in den letzten Jahren einen Weg eingeschlagen, der ihn vom Werk Gottes fortführte. Dieser Mann, dem der liebe Gott eine so wertvolle Gabe anvertraut hatte, war zunehmend hochmütig geworden und meinte, vieles anders und besser machen zu können als sein Apostel. Er hielt Louis Preuß´ Duldsamkeit für Schwäche, seine Demut und Bescheidenheit für mangelndes Durchsetzungsvermögen, seine gläubige Einfalt für ein Zeichen geringen Verstandes. Heinrich Geyer war schließlich zu der Ansicht gelangt, er als Prophet müsse über einem solchen Apostel stehen, da nur ihm allein die Macht gegeben sei, Ämter zu berufen – eine Meinung, die leider auch vor und nach ihm etliche Propheten teilten.

Gewiss wird der Apostel immer wieder versucht haben, Heinrich Geyer von diesem gefahrvollen Weg abzubringen. Aber die Kluft zwischen ihnen wurde noch tiefer und Geyer begann, gegen seinen Apostel zu intrigieren. So suchte er Gleichgesinnte, die in seiner Prophetengabe das wichtigste Amt innerhalb der Gemeinde sahen … Vor seinem Tod hatte Apostel Preuß noch einmal alles versucht, um die Einheit der Hamburger Gemeinde zu erhalten (aber das ist ihm nicht gelungen). Auf seinem Sterbelager rief er den Ältesten Wichmann zu sich, um ihm, wenn er selbst nicht mehr sein sollte, die Leitung der Gemeinde zu übertragen.“ (33)

Im Folgenden wird bereits Fritz Krebs verklärt, der ja praktisch der einflussreichste Mann der Frühzeit ist:

„Allerdings schwelte es da und dort unter der Oberfläche noch weiter, denn es hatte sich gezeigt, dass sich außer J. F. Güldner auch noch andere Männer der Gemeinde aus eigener Machtvollkommenheit zum Apostel berufen fühlten. Aber Apostel Menkhoff und Fritz Krebs, die im folgenden Jahr besonders eng zusammenarbeiteten, hatten auf alles ein wachsames Auge und konnten solchen Bestrebungen rechtzeitig begegnen … Solange diese beiden Gottesknechte über die Anvertrauten wachten, würde kein fremdes Feuer am Altar des Herrn brennen.“ (34)

Friedrich Wilhelm Schwarz und die „Hersteld Apostolische Zending Gemeente“

Nun müssen wir uns noch einmal Friedrich Wilhelm Schwarz und Wilhelm Menkhoff zuwenden. Friedrich Wilhelm Schwarz war 1815 in Sardschau bei Danzig geboren und hatte dort das Schneiderhandwerk erlernt. Er stand zunächst unter dem Einfluss der neupietistischen Erweckungsbewegung und wollte nach Berlin gehen, um dort Missionar zu werden. Mitte der vierziger Jahre war er mit der Katholisch-Apostolischen Bewegung in Berührung gekommen. 1850 war er Priester und schließlich Engel in Hamburg geworden. 1863 hatte er in Amsterdam (Holland) seine missionarische Tätigkeit im Sinne der „Allgemeinen Christlichen Apostolischen Mission“ begonnen.

Dort war durch seine Predigt der reformierte Prediger Menkhoff für den neuapostolischen Glauben gewonnen worden, der von Deutschland aus auch in Holland agierte, und zwar als Mitglied des Missionsvereins des Dorfes Quelle bei Bielefeld, ebenfalls eines pietistischen Missionsunternehmens.

Menkhoff brachte eine wichtige Änderung in die Apostolische Missionsgemeinde von Schwarz hinein. Er stammte aus reformierter Tradition, und unter seinem Einfluss wurden die reichen liturgischen Bräuche der Katholisch-Apostolischen Kirche innerhalb der abgespaltenen Gruppe abgeschafft. Wenn man heute eine neuapostolische Versammlung besucht, merkt man nichts mehr von katholisierenden Elementen, etwa Weihrauch, Gewändern und vorformulierten Gebeten, wie sie bei den Katholisch-Apostolischen üblich waren. Jetzt hat man das schlichte, reformierte Auftreten übernommen mit einfachen schwarzen Anzügen – und aus dem Pietismus das freie Formulieren von Gebeten u.ä.

Calvinistische Nüchternheit kehrte nun ein in diese Gemeinden, zumindest äußerlich. Allerdings ging das nicht von heute auf morgen. Schwarz, auf den übrigens die Versiegelung von Kindern und die Spendung der Sakramente für die Verstorbenen zurückzuführen sind, wollte lange Zeit dieses calvinistisch-nüchterne äußere Gepräge nicht übernehmen, sondern am katholisch-apostolischen Kultus festhalten, aber schließlich ließ er sich von Menkhoff überzeugen, dass dies überflüssig sei. 1885 schließlich wurden in Hamburg und Berlin „die Kirchengewänder auf ein- und denselben Tag abgelegt. Ende der achtziger Jahre waren alle (katholisch)-altapostolischen Spuren verwischt“, wie es in der „Neuen Apostelgeschichte“ (S. 183) heißt.

Menkhoff nun war es, der die Neuapostolische Bewegung von Holland nach Deutschland zurücktrug. Es ist ja so, dass von Hamburg sich der größte Teil abgetrennt hatte, dass sich aber Schwarz noch in Holland befand und durch ihn Menkhoff gewonnen wurde. Und dieser trug nun die Neuapostolische Bewegung wieder nach Deutschland zurück. Offenbar wusste das der Missionsverein, der ihn ausgesandt hatte, nicht. Zunächst war Menkhoff sogar noch Direktor des Queller Missionsvereins, dieses pietistischen Unternehmens, geworden, obwohl er innerlich schon apostolisch eingestellt war. Bald nach dieser Berufung begann er freilich, seine neue Gesinnung öffentlich zu verkündigen.

Menkhoffs Übertritt wirkte in pietistischen Kreisen wie eine Bombe. Es war dennoch nur eine kleine Schar der Pietisten, die sich ihm anschloss und apostolisch wurde. Unter diesen befand sich die Familie Niehaus aus Steinhagen, aus der dann später der zweite Stammapostel hervorging. Es gab gegen Menkhoff Widerstand, der bis zu seinem Tod im Jahr 1895 anhielt.

An Gemeinsamkeiten wurden genannt:

  • die Dreieinigkeit Gottes,
  • die erlösende Gnade durch das Verdienst Jesu Christi,
  • die Notwendigkeit einer neuen Geburt durch Wasser (Heilige Taufe) und Geist (Versiegelung durch lebende Apostel) wie auch
  • die sonntägliche Feier des heiligen Abendmahls, ferner
  • die nahe Wiederkunft des Herrn Jesus,
  • die Entrückung,
  • das Tausendjährige Friedensreich,
  • der Jüngste Tag, an dem alle auferstehen und gerichtet werden.

Es wurden auch die Differenzen aufgeführt. Und zwar sprachen Menkhoff, Krebs und Niemeyer von der „älteren Abteilung“ und der „neuen Abteilung“:

„Die ältere Abteilung lehrt, dass nach der im Jahre 1832 erfolgten Wiederaufrichtung des Apostolats in Zukunft keine weitere Berufung zu Aposteln stattfinden werde, weil die damals berufenen Männer dazu bestimmt seien, die Gemeinde dem Herrn entgegenzuführen. Diese Lehre bewirkte, dass die später berufenen Apostel keine Anerkennung fanden, sondern für falsch erklärt wurden [`Pseudo-Apostel`]; und das war die Ursache jener bedauernswerten Trennung. Die neue Abteilung dagegen hält jene erstgerufenen Männer, von denen nur Sie noch am Leben sind, auch für wahre Apostel des Herrn, zugleich aber erkennt sie auch die an, welche später gerufen wurden …

Der Herr fragte auch die ersten Apostel nicht, ob er Paulus und Barnabas zu Aposteln rufen dürfe, sondern er rief sie, und sie gingen als Apostel in die Welt, erfüllt mit der Kraft des Heiligen Geistes, so wie die erstgerufenen … Hätten jene drei (Jacobus, Petrus und Johannes) ihre (Paulus´ und Barnabas´) Aussonderung zu Aposteln nicht angenommen, so würden sie zwar töricht gehandelt haben; Paulus und Barnabas aber wären dennoch Apostel des Herrn geblieben…“ (36)

Der zweite Unterschied lag in den liturgischen Formen. „Man teilte uns mit, dass die erstgerufenen Apostel in England acht Jahre lang in gewöhnlicher Kleidung in den Gottesdiensten erschienen wären …“ begründen die Neuapostolischen ihr Festhalten an der Einfachheit. (37)

Als dritter Unterschied zwischen der „älteren“ und „neuen Abteilung“ wurde eine unterschiedliche Versiegelungs-Praxis aufgeführt: „Die ältere behauptet wie noch jetzt, dass unter 20 Jahren keiner versiegelt werden dürfe. Die jüngere lehrt dagegen, dass selbst kleinen Kindern die Versiegelung zuteilwerden dürfe…“ Die Neuerung, dass auch Kinder schon versiegelt werden durch Handauflegung der Apostel und den Heiligen Geist nun unmittelbar erhalten („Geistestaufe“), hatte Schwarz eingeführt. „Warum lassen wir unsere Kinder taufen mit Wasser und wehren ihnen die Taufe mit dem Heiligen Geist?“, wurde argumentiert. (38)

Der Schlussabschnitt war ein Aufruf zur Versöhnung unter Anerkennung der neuen Apostel: „Predigen Sie, lieber Bruder, versöhnliche Liebe zu uns, die wir bisher umsonst um seines Werkes willen bei Ihnen gesucht haben. Lassen Sie diese Predigt der Liebe in allen Ihren Gemeinden erschallen; denn auch wir lieben Sie und bitten zu Gott, dass er Sie mit reichem Segen überschütten wolle, weil wir Sie für einen von Jesu gesandten Apostel halten, wie wir aber auch uns für solche ansehen, die, nach dem Willen Gottes vereint, mit Ihnen das Werk des Herrn bis zur Vollendung treiben sollen. … Ihre in der Liebe Jesu verbundenen Brüder und Mitapostel Jesu Christi: Menkhoff, Krebs und Niemeyer.“ (39)

Es kam nie eine Antwort. Woodhouse hat die neu berufenen Apostel nicht anerkannt.

Fritz Krebs und die Einrichtung des Stammapostolats

Fritz Krebs (40) ist derjenige Mann, der das Stammapostolat eingeführt hat. Er wurde 1832 in dem Ort Elend im Harz geboren und ist in dem Ort Not in die Schule gegangen – Namen, die er immer wieder für Wortspiele gebrauchte, um seine Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen humorvoll zu illustrieren. Er war Bahnwärter und kam durch seinen Kollegen Fischer im Jahre 1865 zur Neuapostolischen Lehre. 1866 wurde er Priester. 1879 übertrug ihm der Apostel Menkhoff das Bischofsamt. Schon bald darauf, 1881, wurde er zum Apostel ordiniert.

Fritz Krebs verfolgte drei Ziele:

  • 1. Den engen organisatorischen und lehrmäßigen Zusammenschluss der Gemeinden;
  • 2. Die Ausschaltung des Einflusses der Propheten;
  • 3. Die Beseitigung des Kollegialitätsprinzips unter den Aposteln.

Diese Ziele erreichte er im Laufe seiner Amtszeit als Apostel und Stammapostel, da er immer einflussreicher wurde. Wir haben ja bereits von den Auseinandersetzungen in Hamburg im Jahre 1878 gehört. Als dann 1895 die Apostel Menkhoff und Schwarz gestorben waren, konnte er an die Spitze der Neuapostolischen Bewegung treten.

Dieser Wechsel ging allerdings nicht reibungslos vor sich. Schwarz hatte in seinem Testament festgelegt, dass sein Nachfolger nach einer Trauerzeit von 12 Wochen bestimmt werden dürfe. Was tat nun Krebs, um seine Machtposition auszubauen? Er verlängerte die Trauerzeit für Schwarz auf 1 Jahr und setzte in Holland, in dem damals noch größten Apostelbezirk, den ihm wohlgesonnenen und ergebenen Ältesten Jakob Kofmann als Apostel dieses Bezirks ein. Kofmann versuchte, die Gemeinden in Holland auf die Linie von Krebs festzulegen, was ihm aber nur teilweise gelang.

Den Holländern gefiel nicht, dass Krebs die Propheten ausschalten wollte und dass alles von Deutschland her berufen und entschieden werden sollte. Hierzu heißt es z. B. in der Biografie über Krebs von neuapostolischer Seite:

„Nicht selten kam es vor, dass solche ‘Parlamentarier’ [damit sind `anmaßende Propheten` gemeint, wie es hier auch heißt] während der Gottesdienste, die der Apostel hielt, Zwischenbemerkungen machten oder sogar den Apostel wegen seiner Worte nach Beendigung des Dienstes zur Rechenschaft zu ziehen versuchten. Leider stand ein Großteil der Gemeindemitglieder auf ihrer Seite.“ (41)

In Holland herrschte also beim Amtsantritt von Krebs als Oberhaupt der Apostel ein großer Aufruhr. Und die Mehrheit der dortigen Glieder fiel dann auch von Krebs und seiner Gefolgschaft ab. Mit der Berufung Kofmanns als Verwalter für Holland waren viele nicht einverstanden. Als nun Niehaus, der auch bereits Apostel war (der spätere Nachfolger von Krebs im Stammapostelamt) in Amsterdam weilte, wurde dieser Aufruhr offensichtlich. Es wurde der Vorwurf laut, dass die Apostel in letzter Zeit ohne prophetische Beauftragung eingesetzt worden waren und dass man sich damit nicht abfinden würde. Außerdem sagte man, dass Krebs in einem Artikel die Bibel abgewertet hätte gegenüber dem „neuen, lebendigen Apostelwort“. Krebs hatte geschrieben:

„Reicht ihnen das zeitgemäße Wort Gottes. … Gebt ihnen nicht das minderwertige Futter aus alter Zeit, sondern das frische Grün von heute. Auch gebt den Schafen frisches Wasser, kein abgestandenes Pumpwasser, sondern lebendiges Brunnenwasser.“ (42)

Die Gegner von Krebs sahen darin einen Gegensatz zwischen dem Wort der neuen Apostel und dem Wort der Bibel, was jedoch von Krebs abgestritten wurde.

Der Oppositionsführer in Holland war der Diakon Martinus van Bemmel aus Amsterdam, der durch einen Propheten der Amsterdamer Gemeinde zum Apostel von Juda berufen wurde. Juda sollte also mit Holland identisch sein. Bemmel drohte allen, die die Einheit unter Krebs anstreben wollten, mit dem Ausschluss. Es war also eine große Front aufgerichtet. Der Weg zum Stammapostel, zur absoluten monarchischen Führung war für Krebs nicht so leicht, sondern ging über viele Spaltungen; denn die Unterordnung unter eine Führungsgestalt ist nicht so einfach.

In der Krebs-Biografie werden diese Begebenheiten aus neuapostolischer Sicht wie folgt dargestellt:

„Natürlich blieben Apostel Krebs diese Machenschaften nicht verborgen, und so entschloss er sich nunmehr zu durchgreifenden Maßnahmen. In einem offiziellen Schreiben vom 28. Februar 1897 teilte er Martinus van Bemmel die Enthebung aus dem Apostelamt mit. Aber dieser Mann hatte es verstanden, viele auf seine Seite zu ziehen. Der größte Teil der Amsterdamer Gemeinde hielt zu ihm. Die Abgefallenen nannten sich von da an ´Hersteld Apostolische Zendingsgemeente`, während die treu Gebliebenen, die sich um Stammbischof Kofman scharten, zur Unterscheidung den Namen ´Hersteld Apostolische Zendingsgemeente en de Eenheid der Apostelen en Nederland and Kolonien` annahmen.“ (43)

1898 ernannte Krebs Jakob Kofman zum Stammbischof und schließlich zum Apostel des Stammes Juda. Es gab nunmehr also zwei Apostel des Stammes Juda, Martinus van Bemmel und Jakob Kofmann in den jeweiligen sogenannten Kirchen.

Die offizielle Stunde des Stammapostolats, wie es heute noch vorhanden ist, schlug an Pfingsten 1897. Es hatte auch bei den Katholisch-Apostolischen Stammapostel gegeben, aber diese Bezeichnung hatte man so verstanden, dass jeder der zwölf Apostel einem Stamm zugeteilt war (dem Stamm Juda, dem Stamm Ephraim usw.), also verteilt auf die Weltkugel. Jetzt aber hat man das Stammapostolat uminterpretiert. Es bedeutete nicht mehr: „Jeder hat einen Volksstamm“, sondern nun war der Baumstamm gemeint, von dem alle anderen Zweige und Äste abhängen. Jeder muss nun an den „Lebensstrom des Stammapostels“ angeschlossen sein, der als der Träger des Heiligen Geistes in seiner Vollgewalt gilt.

„Stammapostolat“ hieß nun, dass das monarchische Führungsprinzip eingeführt wurde. So schreibt etwa Helmut Obst in seiner Darstellung der neuen Apostel und Propheten: „Die Neuapostolische Gemeinschaft erhielt durch Fritz Krebs ihr ‘Papsttum’.“ Und dieser „Einheitsvater“, wie man Krebs auch nannte, bewirkte nun „den Durchbruch zu dynamischem Breitenwachstum“. (44) Die Abspaltungen machten nicht viel aus, sondern nun war eine straffe Organisation, eine Hierarchie eingeführt.

Der Sektenexperte Kurt Hutten überschreibt ein Kapitel über die neuen Propheten und Apostel: „Unter den Fittichen des vollmächtigen Amtes“. (45) Das zieht viele Menschen an, dass sie unter den Fittichen eines Einheitsvaters, eines scheinbar vollmächtigen Amtsträgers stehen, der die heilsame Rettung garantiert, indem er den Heiligen Geist „kanalisiert“. Solche Vorstellungen magischer Art gibt es ja nicht nur in der Neuapostolischen Kirche.

Am Pfingstfest 1897 also wurde das Stammapostolat eingeführt. Fritz Krebs eröffnete und leitete den Gottesdienst und stellte ihn unter das Bibelwort: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (2. Mose 20, 3). Nur ein Gott – und nur ein Haupt in der Familie, im Staat, in der Kirche – das wurde von Krebs parallel gesetzt. Und dieses eine Haupt sei nun eben der Stammapostel. Die Predigt hielt seine „rechte Hand“, sein späterer Nachfolger im Stammapostelamt, Hermann Niehaus. Niehaus sagte:

„Gott will, dass alle Herzen und Augen auf ihn, den Einen, Wahrhaftigen, gerichtet sein sollen, der keine Nebengötter duldet. So wurde das Volk Israel, zu welchem zuerst diese Worte gesprochen wurden, als eine Einheit, als ein Leib bezeichnet. Das eine sichtbare Haupt dieses Leibes war Mose … Christus ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde, in ihm gipfelt die Einheit seines Leibes. Da aber die Gemeinde als ein Körper sichtbar ist, so ist auch das Haupt sichtbar in dem gesandten Apostelamte, worin die Einheit der Gemeinde offenbar wird, in dem Jesus sich repräsentiert.“ (46)

Niehaus führte in diesem Zusammenhang den Vergleich an, dass der Mann das Haupt in der Familie sei. Wenn dort Ordnung und Einheit herrschen sollen, so müsse der Mann das Haupt aller sein. „Wollen alle herrschen, dann ist Unordnung, Verwirrung und Untergang des Familienlebens die Folge davon. So wie im Familienleben, so ist es auch im Kirchlichen.“ (47)

Nun blicken wir einmal auf die Familie von Krebs mit sechs Kindern. Ich zitiere aus der Krebs-Biografie der Neuapostolischen Kirche:

„Eine weitere, ganz persönliche Schwierigkeit hatte Friedrich Krebs in seinem eigenen Familienkreis zu bestehen. Weder seine Frau noch seine sechs Kinder wurden jemals neuapostolisch.“ (48)

Er selber äußerte sich darüber wie folgt:

„Außer der Presse im Natürlichen, worin ich in meiner Lehrzeit vollendet habe, stehe ich ohne Weib und Kind, ohne Verwandten, wo ich von diesem Lehrstuhle die (in der Welt) fremd gewordenen Sprüche ‘Liebe deinen Nächsten und trage in Geduld’ gründlich lernen musste. Unter all dieser gewaltigen Hand Gottes musste ich mich beugen, ob ich wollte oder nicht…“ (49)

Dann heißt es in der Biografie weiter:

„Bei mancher Heiligen Versiegelung mag er mit traurigem Herzen an die Seinen daheim gedacht und sich gefragt haben: Warum stehen nicht auch sie, meine vier Mädchen und zwei Buben mit ihrer Mutter vor dem Altar, um durch den Apostel den Heiligen Geist zu empfangen und Gotteskinder zu werden?“ (50)

Hier finden wir eine persönliche Tragik in seinem Leben – allerdings in scharfem Widerspruch zum Inhalt der oben zitierten Stammapostelrede.

Welchen Charakter besaß der Mann, der das neuapostolische Stammapostolat begründete? Vonseiten der Neuapostolischen wird er sehr besungen und umschwärmt, und von den Kritikern wird er sehr negativ beurteilt, was seine Person angeht. In der neuapostolischen Biografie heißt es: „Groß von Wuchs besaß er nicht nur große körperliche Kräfte, er war auch ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es ihm erforderlich erschien. Seine physische Kraft wurde nur noch von seiner seelischen übertroffen. Wie sonst hätte er all die Kämpfe und Anfeindungen, selbst im eigenen Familienkreis, die Enttäuschungen und Rückschläge und nicht zuletzt die vielen Anstrengungen, die mit seinem Amt verbunden waren, bestehen und verkraften können? Kühnheit und Tatkraft sind Eigenschaften, die gleichfalls sein Wesen kennzeichnen.“ (51)

Ähnliche Lobeshymnen finden sich auch in der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“. Da werden „seine alle anderen Apostel weit überragenden Gaben und Fähigkeiten“ gerühmt. „Die überwältigende Leistung des Stammapostels Krebs ermöglichte es, die Einheit des Werkes zu schaffen. Sie war die Ursache [und jetzt kommt eine Lüge; s.o.], dass er von allen ohne Vorbehalte als das sichtbare Haupt, als Stammapostel, anerkennt würde.“ (52) Von allen, außer von den vielen Ausgeschlossenen und Ausgetretenen.

Anders hört sich das Urteil des Kritikers Kurt Hutten an:

„Er war organisatorisch begabt und besaß Führungsqualitäten, aber er war auch herrschsüchtig und gewalttätig. Ihm und seinem Anhang passte Geyers kirchenfreundliche Einstellung nicht. Krebs hätte am liebsten alle ‘Schwarzröcke’ auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“ Und im Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Hamburger Konflikt heißt es: „Geyer wurde (von Krebs und dessen Anhängern) vorgeworfen, dass er die Gemeinschaft in die Landeskirche zurück predige. Von einer Flut von Schmähungen verfolgt, verließen er und seine Anhänger den ‘entheiligten Ort’, um ihn fortan nie wieder zu betreten.“ (53) Krebs strebte also zäh nach der Macht und hat seine Ziele auch tatsächlich erreicht, und zwar im Bund mit dem Kleinlandwirt Hermann Niehaus, seinem Nachfolger.

Hutten betont übrigens, dass die Neuapostolische Gemeinschaft eigentlich nicht 1863 geboren wurde. Die Abspaltung unter Geyer war ja noch nicht die Neuapostolische Kirche, sondern die neuapostolische Abspaltung ging erst als nächste Stufe aus dieser hervor. Eigentlich entstand erst mit dem Stammapostolat das, was man heute unter „Neuapostolischer Kirche“ versteht – dann, „als Krebs seine Konzeption durchgesetzt und mit deren Gegnern gebrochen hatte. Den Aposteln wurde nun, unter Ausschlußss aller andern Ämter, die exklusive Vollmacht der Heilsvermittlung zugeschrieben: ‘Die lebenden Apostel sind die Tore zum Reiche Gottes’.“ (54) Die Amtsbezeichnung „Stammapostel“ nahm Krebs bereits seit 1896 an. 1905 schaffte er, in seinem Todesjahr, endgültig das Prophetenamt ab.

Im Nachruf für Krebs von seinem Amtsnachfolger Niehaus wird etwas von der Menschenverherrlichung deutlich, die dem Stammapostel zuteil wird: „Es ist nicht so leicht, in die Nähe des von Gott gesandten Apostels zu kommen; denn er ist nicht mein Kollege, auch nicht mein Gespiele, auch nicht mein Bruder – sondern mein Herr und Meister! Ich schämte mich immer, wenn ich in seinen Briefen an mich lese, wo er sich ‘mein Bruder’ nennt und sich zu mir elendem Menschen erniedrigt … Weinend und flehend stand Vater Krebs vor seinem Gott für uns Menschen, und ein heißer Blutstrom Christi quoll aus seinem Munde … Das war kein Mensch mehr, der da sprach, das konnte nur Christus sein, wie Vater Krebs das auch beim Abendmahl vorbrachte: Das ist mein Fleisch, denn ich habe die Welt überwunden, obwohl ich noch lebe.“ (55)

Hermann Niehaus und die „Neuapostolische Gemeinde“

Hermann Niehaus (65), ab 1905 Stammapostel, war 1848 in Steinhagen bei Bielefeld als Kleinbauernsohn geboren und in pietistischen Kreisen groß geworden. Er hatte nach eigener Aussage einmal eine „Bekehrung“ erlebt, und zwar unter der Verkündigung Menkhoffs. Allerdings wurde er dann mit Menkhoff zusammen ins neuapostolische Lager hinübergeholt.

Als Neunzehnjähriger gehörte er zu dem kleinen Kreis derer, die sich unter Menkhoffs Verkündigung den Neuapostolischen anschlossen. 1868 wurde die ganze Familie Niehaus versiegelt. 1869 wurde Hermann Niehaus zum Evangelisten berufen, 1872 zum Bischof, doch nahm er diese Berufung damals noch nicht an, weil es keine Arbeit für ihn gab. Es waren in dieser Gegend noch zu wenige Neuapostolische vorhanden, als dass ein Bischof nötig gewesen wäre. Erst 1894 akzeptierte er dann die Berufung zum Bischof durch Krebs. 1896 wurde er Apostel des Bezirks Bielefeld und schließlich nach dem Tode von Krebs 1905 der zweite Stammapostel – ein Amt, das er bis 1930 innehatte. 1932 ist er gestorben.

Unter Niehaus` Führung gab es so viele Abspaltungen wie nie zuvor. Schon bei seinem Amtsantritt hatte er betont, dass die Rottengemeinschaften an seiner „Dickfaust und eisernen Stirne zerschellen werden“. (57)

Niehaus nahm eine Neueinteilung der Apostelbezirke vor, forcierte einen Generationswechsel unter den Amtsträgern und verlegte die Leitung nach Steinhagen, seinen Wohnort. Unter seinem Stammapostolat nahm diese Gemeinschaft jedes Jahr um einige Tausend Mitglieder zu. 1907 wurde die Bezeichnung „Neuapostolische Gemeinde“ allgemein eingeführt. Vorher hatte man diesen Namen nur in Sachsen geführt.

Niehaus war es auch, der 1916 für die Herausgabe eines Lehrbuchs sorgte mit dem Titel „Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben“. Dieses ist zu einem – mehrmals überarbeiteten – Standardwerk bis heute geworden. Es existiert ja verhältnismäßig wenig Literatur von den Neuapostolischen, im Unterschied zu den Katholisch-Apostolischen. Umso wichtiger ist dieses Lehrbuch mit über 200 Fragen und Antworten, eine Art Katechismus der Neuapostolischen Kirche.

Im Ersten Weltkrieg kam es zu einer spektakulären Falschprophetie von Niehaus. Das Prophetenamt war damals bereits auf das Apostelamt gelegt worden. Niehaus war ein glühender Nationalist im Ersten Weltkrieg wie die meisten Deutschen in jener Zeit. Als solcher beschwor er die Treue zu Gott und zum Kaiser. Und in seinen Gesichten und Träumen wurden ihm der Sieg Deutschlands und der Untergang Englands „zweifellos geoffenbart“. Dies traf bekanntlich nicht ein. Deshalb gab es nach dem Krieg unter anderem auch deshalb Austritte vieler Enttäuschter.

1917 wurde in der Kriegssituation eine Neuerung veranlasst: Abendmahls-Hostien wurden mit je drei Tropfen Wein beträufelt und so an die Soldaten im Felde geschickt, da Wein knapp war und sich schlecht transportieren ließ. Obwohl die Kriegssituation nicht mehr vorhanden ist, wird dies heute noch so praktiziert in neuapostolischen Versammlungen. Das Abendmahl wird im Grunde nur unter einer Gestalt (Brot) gereicht, allerdings wird die zweite Gestalt (Wein) in Form dreier Tropfen, die auf die Hostie schon fabrikmäßig eingegeben sind, zumindest angedeutet. Dem Kelchwort „Trinket alle daraus!“ ist damit allerdings nicht entsprochen.

Niehaus starb – wie schon erwähnt – am 23. August 1932, aber er musste bereits zweieinhalb Jahre vorher vom Stammapostelamt zurücktreten. Welches war der Grund dafür?

Die letzten zweieinhalb Jahre lebte er in geistiger Umnachtung. Das begann vermutlich, als er am 25. Januar 1930 in großem Rahmen sein 25-jähriges Jubiläum als Stammapostel feierte. Ich zitiere zunächst die Beschreibung der Vorkommnisse, wie Helmut Obst sie wiedergibt:

„Auf dem Gipfelpunkt seines Erfolges, inmitten der Selbstdarstellung seines hohen Sendungsbewusstseins, traf ihn ein schwerer Schicksalsschlag. Er erlitt einen Unfall. Die Darstellung, dass Niehaus bei einem geistlichen Theaterspiel anlässlich seines 25-jährigen Stammaposteljubiläums Christus dargestellt habe und dabei von einer Treppe gestürzt sei, wird von neuapostolischer Seite als falsch bezeichnet.“ (58)

Auch Hutten weist auf die unsichere Forschungslage hin:

„Über das Ende von Hermann Niehaus liegen widersprüchliche Darstellungen vor. Nach der einen, die aus zuverlässiger Quelle stammt, wurde 1930 bei der Feier zu seinem 25-jährigen Jubiläum als Stammapostel ein Bühnenspiel aufgeführt. Auf der Bühne befand sich eine Treppe, welche die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellen sollte. Niehaus wirkte mit, indem er die Rolle Christi spielte und seine Wiederkunft vorführte. Dabei ereignete sich, wohl infolge eines Fehltritts, das Unglück. Niehaus erlitt schwere Verletzungen, konnte darum sein Amt nicht weiterführen und starb 1932. Hermann Niehaus Junior bestritt in einer eidesstattlichen Versicherung vom 7. Mai 1968 diese Darstellung. Sein Vater habe nie an einem Bühnenspiel teilgenommen, sondern der 82-Jährige sei am 25. Januar 1930 auf der Treppe von seinem Wohnhaus zu Fall gekommen.“ (59)

Wir stehen also vor unterschiedlichen Angaben. Auszuschließen ist jedoch nicht, dass die erste Version zutrifft, denn das hohe Sendungsbewußtsein von Niehaus wird auch in neuapostolischer Literatur bezeugt:

„Als er bei seiner Verwandten, der Witwe N., auszog, sagte er zu ihr beim Abschied: ‘Du hast nicht mich, sondern den Herrn Jesum aus deinem Hause getan. Nun wird dir dein Haus wüste gelassen werden.’“ Und „diese Worte sollten sich im Laufe der Zeit bewahrheiten“, heißt es in einer neuapostolischen Biographie über Niehaus mit dem Titel „Der Größte unter ihnen“. (60)

Auch Lieder aus dem Neuapostolischen Gesangbuch von 1912 machen das deutlich. In Lied 509 heißt es in Strophe 1: „Ja nirgends auf dem Erdengrund fühlt’ ich mich frei so von Beschwerde, als an der Brust von Vater Krebs, das war mein Himmel auf der Erde.“ Und in Vers 3: „Verloren gehet von uns keiner, so wir uns klammern an die Hand in seinem Sohne Niehaus heute. An dieser Brust wird weiter blühn für uns der Himmel auf der Erde.“ (61)

Diese Strophen wurden später durch andere ersetzt. Die Personennamen wurden weggelassen. Aber zu Lebzeiten der Stammapostel und unmittelbar nach ihrem Tod wurde ihnen übermenschliche Verehrung zuteil.

Johann Gottfried Bischoff und die Wiederkunft Christi

Johann Gottfried Bischoff amtierte 30 Jahre lang als Stammapostel, von 1930 bis 1960. Geboren wurde er 1871 in Unter-Mossau im Odenwald. Seine Berufe waren Schuhmacher, Sergeant und Zigarrenhändler. 1897 hatte er die Neuapostolische Gemeinde in Mainz besucht und war bald darauf versiegelt worden. 1903 war er Bischof, 1905 Apostelhelfer und 1906 Bezirksapostel in Frankfurt/Main geworden. Frankfurt war dann auch sein Sitz bis zu seinem Tod. 1920 wurde er Stammapostelhelfer. 1924 wurde er bereits von Niehaus als dessen Nachfolger designiert. 1930 schließlich, noch zu Lebzeiten des geistig umnachteten und gestürzten Niehaus, übernahm er die Stammapostelleitung. Auch unter seinem Stammapostolat erfuhr die neuapostolische Bewegung eine große Ausdehnung.

Bischof amtierte in der Zeit des Dritten Reiches. Und hierbei fällt auf, dass die Neuapostolische Kirche – so nannte sie sich seit 1930 – ohne größere Probleme durch diese ganze Zeit der Diktatur und auch der späteren DDR hindurchgekommen ist. Man bemerkt auch heute kaum etwas im öffentlichen Leben von den Neuapostolischen. Das ist eine Gruppe oder Sekte, die es wirklich geschafft hat, im Inneren, im Stillen, zurückgezogen ihre Heilsvorstellung zu praktizieren.

Bischoff allerdings ging über dieses Maß hinaus, indem er Kontakt mit der NSDAP aufnahm, bei dieser Mitglied wurde und mit ihr vereinbarte, nur dann Mitglieder in die Neuapostolische Kirche aufzunehmen, nachdem vonseiten der NSDAP eine Unbedenklichkeitserklärung über diese Personen vorgelegt werden konnte. Ferner wurde die neuapostolische Zeitschrift „Wächterstimme aus Zion“ 1934 „arisiert“, indem man die Worte „aus Zion“ aus dem Titel strich. Und so kam man ohne größere Konflikte durch die braune Diktatur. 1941 allerdings wurden die neuapostolischen Zeitschriften trotzdem eingestellt, aber wegen der Kriegssituation (Papiermangel) und nicht deshalb, weil man weltanschauliche Konflikte mit dem nationalsozialistischen Regime gehabt hätte. (62)

Nach dem Krieg verband Bischoff die Frage nach der zeitlichen Festlegung der Wiederkunft Christi mit seiner persönlichen Existenz. In seiner frühen Zeit hat er es noch abgelehnt, Wiederkunftstermine zu berechnen. So hatte er in der „Wächterstimme aus Zion“ vom 1. Mai 1932 ausgeführt:

„Nun wollen wir aber nicht in den Fehler vieler gottesdiensttreibender Geister verfallen, uns damit zu beschäftigen, wann diese Zeit sein wird. Obgleich der Herr Jesus laut Apostelgeschichte 1, 7 sagte: ‘Es gebührt euch nicht zu wissen Zeit oder Stunde, welche der Vater seiner Macht vorbehalten hat’, suchen dennoch viele in ihrer Vermessenheit Tag und Stunde der Wiederkunft Christi festzulegen. Alle, die sich damit befasst haben, mussten bis jetzt eine schmähliche Enttäuschung erleben. Für die Kinder Gottes ist es nicht Hauptsache, zu wissen, wann der Herr kommt, sondern viel wertvoller ist es, dass wir Christo angehören, wenn er kommen wird, und dass wir zu denen zählen, welche die große Stimme hören dürfen: Steiget herauf!“ (63)

Dieser Haltung des frühen Bischoff kann man aus biblisch-theologischer Sicht voll zustimmen. In seinen späteren Jahren vollzog er aber eine Wendung um 180 Grad. Und zwar wurde – ausgelöst durch sogenannte Gesichte und Träume von Gemeindegliedern und Amtsträgern sowie durch eigene Erlebnisse – in ihm immer mehr die Ansicht der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Jesu Christi verstärkt.

Bereits in einem Artikel aus dem Jahre 1939 wurde sein sich anbahnender Gesinnungsumschwung erkennbar. Und dann nahm diese Sicht immer mehr zu. 1947 äußerte er in Dinslaken: „Ich sage euch nicht zu viel, wenn ich erwähne, dass wir verschiedene Geschwister, selbst Amtsträger haben, die bereits die Verheißung des Herrn empfingen, dass sie nicht mehr sterben, sondern verwandelt werden.“ (64) Damals hatte er die Erfüllung noch auf verschiedene Amtsträger bezogen.

Aber 1950 begann er, seine eigene Person im Blick auf die Wiederkunft Christi in den Mittelpunkt zu stellen. In dieser Hinsicht wurde der Gottesdienst an Weihnachten 1951 in Gießen weithin bekannt, weil er dort seine Ansicht zugespitzt zum Ausdruck brachte. Und da Bischoff damals bereits 80 Jahre alt war, hatte diese Naherwartung eine ganz besondere Brisanz, denn er sagte, dass man diese Erwartung nicht auf Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte ausdehnen, also nicht auf den „Sankt Nimmerleinstag“ verschieben solle. „Das liegt nicht in der Absicht Gottes. … Tag und Stunde, wann der Herr kommt, wissen wir nicht“, betonte er auch hier. Doch durch seine nachfolgenden Ausführungen überging er diese biblische Warnung eklatant. Bischoff sagte in Gießen:

„Aber ich persönlich bin überzeugt, dass die Zubereitung des königlichen Priestertums in der Zeit erfolgt, in der ich noch vorhanden bin, und dass die Reichsgottesarbeit im Weinberg des Herrn mit mir ihr Ende erreicht, dass also der Feierabend kommt, wo Lohnzahlung stattfindet. Das Zeichen hierfür besteht darin, dass der Herr zu meiner Zeit in Erscheinung tritt und Abschluss seines Werkes macht. … Für mich steht sicher, dass, wie angeführt, die Zeit der Zubereitung des königlichen Priestertums unter meiner Hand vollendet wird und dass die Reichsgottesarbeit im Weinberge des Herrn mit meinem Ende auch ihr Ende erreicht … Abraham war der erste, dem Gott Offenbarungen gab. Er war das erste Tor, durch das der Herr den Segen gab. Ich stehe als Tor der Mitternacht … Ob das jemand glaubt oder nicht, ändert an der Tatsache absolut nichts.“ (65)

Und weiter: „Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr. So steht es im Ratschluss unseres Gottes, so ist es festgelegt, und so wird es der Herr bestätigen. Und zum Zeichen sollt ihr das haben, dass der Herr in meiner Zeit kommt, um die Seinen zu sich zu nehmen.“ (66)

Das wurde von Bischoff danach in fast jeder Ansprache wiederholt – über Jahre hinweg. Dabei übte er nicht geringen Druck auf seine Anhänger aus. So sagte er drei Jahre später (da war er schon 83 Jahre alt !) am 12. September 1954, bei einem Gottesdienst in Stuttgart: „Ich bin mir doch bewusst, wenn ich sterben würde – was nicht der Fall sein wird -, dann wäre Gottes Werk vernichtet. … Falls ich tatsächlich heimgehen würde, was nicht geschehen wird, dann wäre das Erlösungswerk erledigt.“ (67)

Aber nicht alle Neuapostolischen erkannten diese Botschaft an. Zum Sprecher der Opposition wurde der Düsseldorfer Apostel Peter Kuhlen. Dieser war ursprünglich 1948 einstimmig vom Apostelkollegium bestimmt worden, Nachfolger von Bischoff nach dessen Ableben zu werden. Nachdem es aber geheißen hatte, dass Bischoff keinen Nachfolger mehr haben würde, weil er nicht sterbe, bevor der Herr komme, trat Kuhlen von seinem Amt zurück. Dieser Rücktritt und die danach folgenden Auseinandersetzungen verursachten einen großen Aufstand im Ruhrgebiet, vor allem in Düsseldorf und Umgebung.

1954 stellte sich Kuhlen öffentlich dem Vorhaben Bischoffs entgegen, der die Versiegelung und Aufnahme in die Neuapostolische Kirche abhängig machen wollte von der Anerkennung der „Botschaft“, wie man Bischoffs Selbstaussagen damals nannte. Kuhlen und zwei weitere Apostel, Siegfried Dehmel und Ernst Dunkmann, forderten, dass die Annahme oder Ablehnung dieser „Botschaft“ in die eigene freie Entscheidung gestellt werden solle und nicht, dass man die Aufnahme in die Gemeinde davon abhängig mache. Es sollte also individuell entscheidbar sein. Dieses Ansinnen wurde abgelehnt.

In der neuapostolischen Biografie über den Bischoff-Nachfolger Walter Schmidt wird über Kuhlen und die anderen „Abweichler“ folgendes ausgeführt

„Aber die Geschwister seines Bezirks, die bis zum Jahr 1955 in Peter Kuhlen ihren Apostel sahen, die ihn gewiss auch liebten, ihm glaubten und vertrauten, konnten damals noch nicht ahnen, dass er nun nicht mehr in der treuen Nachfolge zu seinem Vorangänger blieb. Natürlich waren dem Stammapostel Bischoff diese Bestrebungen bekannt. Fast alle Apostel – bis auf die vorhin erwähnten Ausnahmen – standen treu zu ihm und ließen es nicht an Warnungen fehlen. Doch der Stammapostel sagte nur: ‘Das ist ein Geschwür, das wir herauseitern lassen müssen.` … Herauseitern tut sehr, sehr weh.“ (68)

Und das „Geschwür“ wurde „herausgeeitert“. 1954 waren in etlichen Gemeinden des Bezirkes Düsseldorf so ungute Verhältnisse offenbar geworden, dass nach der inneren Trennung auch die äußere vollzogen wurde. Für den Bezirk Düsseldorf wurden neue Vorsteher, Bezirksämter und Bischöfe benötigt, aber es dauerte seine Zeit, bis diese herangereift waren. Es traten nämlich ca. 25.000 Neuapostolische aus! Dies war die größte Abspaltung, die es bisher gegeben hatte. Sämtliche Vermögenswerte der Gemeinden aber blieben bei der Neuapostolischen Kirche. Die Ausgetretenen mussten sich, obwohl sie vorher durch ihre Spenden alles finanziert hatten, neue Gebäude schaffen. Das läuft immer so ab, wenn es eine Absplitterung gibt. Das Eigentum bleibt unter der Leitung des Stammapostels.

1960 schließlich starb Bischoff 89jährig. Und selbst noch in dem Monat vor seinem Tod sagte der Bezirksapostel Walter Schmidt: „Aber es bleibt bei der Verheißung: ‘Der Herr kommt zu Ihrer Lebenszeit.’“ Und Bischoff antwortete: „Ja, das ist gewiss!“ (69)

Walter Schmidt wurde sein Nachfolger. Und dieser schrieb nach dem Tode Bischoffs in einem Brief:

„Sowohl er wie auch wir und alle mit ihm treu verbundenen Brüder und Geschwister haben niemals daran gezweifelt, dass der Herr die ihm gegebene Verheißung zur gegebenen Zeit auch erfüllen würde. Wir stehen deshalb vor dem unerforschlichen Ratschluss unseres Gottes und fragen uns, warum er seinen Willen geändert hat. Der Stammapostel … kann sich nicht geirrt haben, weil er immer das Wort des Herrn zur Richtschnur seines Handelns gemacht hat.“ (70)

Es habe also an Gott und nicht am Stammapostel gelegen, dass diese „Botschaft“ sich als Irrtum herausgestellt hat. So wurden die Tatsachen verdreht.

Und was gebot Schmidt? „Wir schweigen und gehen unseren Weg.“ (71) Diskussionen wurden verboten. Erstaunlicherweise traten nach dieser Enttäuschung gar nicht so viele aus, denn die meisten, die mit der „Botschaft“ Bischofs nicht einig waren, hatten ja bereits vor dessen Tod die Neuapostolische Kirche verlassen. Die anderen waren offensichtlich bereit, den Weg mit Bischoff bis zum bitteren Ende mitzugehen.

Nach der Trauerfeier für Bischoff wurde schnell eine Apostelversammlung einberaumt, in der Schmidt zum Stammapostel gewählt wurde, da Bischoff ja keinen Nachfolger bestimmt hatte.

Schmidt legte seiner Einführungspredigt das Wort 2. Petrus 3, 3-6 zugrunde, in dem von den Spöttern die Rede ist, welche sagen: „Wo bleibt denn die Verheißung seines Kommens?“ Schmidt betonte: „Auch wir haben nun eine Stunde, über die der Herr den Schleier der Trauer gelegt hat.“ Für diese Trauerstunde beanspruchte er danach sogar den Ruf Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

In seinem Vergleich des verstorbenen Stammapostels mit Jesus Christus näherte sich Schmidt hart der Gotteslästerung, als er äußerte: „Der Stammapostel ist der Rufer bis in seine Gethsemane-Nacht gewesen. Wir sind jetzt in eine Gethsemane-Nacht gekommen, die auch der Stammapostel hat durchmachen müssen. Er ist uns vorausgegangen, und es darf die Frage aufgeworfen werden: ‘Warum hat er uns nicht mitgenommen?’ … Wir werden hierbei an Abraham erinnert. Als er auf dem Höhepunkt seines Glaubens stand, kam der Herr zu ihm und sagte: ‘Opfere deinen Sohn!’ Das hieß mit anderen Worten: (Und jetzt kommt eine Allegorese:) Opfere die dir gegebene Verheißung!’“ (72)

Die Verdrehung der Tatsachen erreichte ihren Höhepunkt, als Schmidt ausrief: 

„Der heimgegangene Stammapostel hat uns in wunderbarer Weise auf den höchsten Stand des Glaubens geführt, und zwar durch das, was ihm der Herr verheißen hatte. Das ist unser glaube gewesen bis zu dem Augenblick, wo er, der Stammapostel, die Augen geschlossen hat. Ich bin Zeuge, denn ich war am Dienstag noch bei ihm. Als wir uns verabschiedeten, war er geistig und seelisch in einer überaus großen Frische. Ich habe mich mit den Worten von ihm verabschiedet: ‘Lieber Stammapostel, es bleibt die Verheißung bestehen, der Herr kommt zu Ihrer Lebenszeit.’ Da schaute er mich noch einmal zum letzten Male an, und seine Augen leuchteten: ‘Ja, das ist gewiss.’ Die Apostel und ich schämen uns nicht, dass wir gläubig diese Verheißung hinausgetragen haben in alle Lande.“ (73)

Die weitere Entwicklung der Neuapostolischen Kirche

Walter Schmidt amtierte als Stammapostel von 1960 bis 1975. Er starb im Jahre 1981 im Alter von 89 Jahren. Seine Nachfolger im Stammapostelamt wurden: Ernst Streckeisen (1975-1978), Hans Urwyler (1978-1988), Richard Fehr (seit 1988). Die letzten drei sind Schweizer. Unter ihnen verlief die Geschichte in ruhigeren Bahnen, wenn es auch immer wieder Opposition, Austritte und Spaltungen gab (z.B. 1988 durch den Apostel H. G. Rockenfelder, der vergeblich das prophetisch-charismatische Element der Anfangszeit wieder einführen wollte; er gründete die „Apostolische Gemeinde“). Doch insgesamt erfuhr die Neuapostolische Kirche nach dem Tode Bischoffs ein weiteres Wachstum und eine Ausbreitung in die meisten Staaten der Erde. In Deutschland besitzt sie eine größere Mitgliederzahl (ca. 400.000) als alle traditionellen Freikirchen zusammen.

Fragen aus der Geschichte der Neuapostolischen Kirche

Die Geschichte der Neuapostolischen Kirche und ihrer „Vorläufer-Kirchen“ ist eine Geschichte von Gaben und Geistesaufbrüchen, von Amt und Autorität, aber auch von Kämpfen und Rivalität, von Falschprophetie und Spaltungen. Betrachtet man sie im Zusammenhang, dann stellt sich eine Reihe von Fragen, z. B.:

  • War bei den Aufbrüchen und spektakulären Erscheinungen im 19. Jahrhundert wirklich der Geist Gottes am Werk – oder war es ein falscher, dämonischer Geist?
  • Wie sind in diesem Zusammenhang die Voraussagen – vom Albury-Kreis bis zu J. G. Bischoff – einzuordnen, die fast alle nicht alle eingetroffen sind? – Lies hierzu 5. Mose 18,22!
  • Welche der erwähnten und nicht-erwähnten Gruppierungen, die alle miteinander im Konflikt stehen, vertrat oder vertritt nun die „wahre apostolische Kirche“: die Katholisch-Apostolische Kirche, die Allgemeine Christliche Apostolische Mission, die Neuapostolische Kirche, eine der vielen apostolischen Splittergruppen – oder gar keine von diesen allen?
  • Bindet sich der Heilige Geist wirklich an ein Amt, wie etwa das des Stammapostels? – Lies hierzu Joh. 3,8!

Wichtiger als alle diese Fragen ist jedoch folgende grundlegende Frage:

  • Ist in der Bibel für unsere Zeit wirklich das Auftreten neuer Apostel verkündigt – oder handelt es sich hierbei um eine Fehldeutung der Heiligen Schrift, verbunden mit menschlichem Wunschdenken und Machtstreben?

© Lothar Gassmann


Foto: https://www.apostolische-geschichte.de/wiki/images/Albury-Konferenz1826.jpg



Fußnoten

1) Zum Thema “Taufe für die Toten” und “Totenhandlungen” generell gilt das gleiche, was im Band “Mormonen” in dieser Reihe ausgesagt wurde: Hier lauert die Gefahr des Spiritismus (vgl. 5. Mose 18,9 ff.)

2) „In Art und Umfang ähnlich wie mein bereits erschienenes Werk: Zeugen Jehovas. Geschichte, Lehre, Beurteilung, Hänssler-Verlag: Neuhausen-Stuttgart 1996; 2. Aufl. Holzgerlingen 2000; 344 Seiten. „

3) „Vgl. zum Folgenden aus katholisch-apostolischer Sicht: Albrecht 1892; Carlyle 1850; Drummond 1908; Edel 1971; Rothe 1872; Thiersch 1980; Woodhouse 1863 u. 1901; und vor allem Roßteuscher 1886. Aus neuapostolischer Sicht: Geschichte; Geschichtlicher Rückblick; 100 Jahre; Menkhoff 1869; Neue Apostelgeschichte; Salus 1913. Kritisch: Dallimore 1983; Obst 1990; Schröter 1996; Strachan 1988; Weber 1977. „

4) Geschichte, S. 17.

5) Zit. nach: Ev. Kirchenzeitung, Berlin 1864, Sp. 283.

6) Vgl. Ev. Kirchenzeitung, Berlin 1864, Nr. 24, Titelseite.

7) „Vgl. hierzu ausführlicher: Dallimore 1983; Strachan 1988.“

8) Zit. nach: Ev. Kirchenzeitung, 1864, Sp. 285 f.

9) Ebd., Sp. 286.

10) Zit. nach: Ev. Kirchenzeitung, 1864, Nr. 25, Titelseite.

11) Ebd.

12) Ebd.

13) Zit. nach: Neue Apostelgeschichte, S. 84.

14) Ev. Kirchenzeitung, 1864, Sp. 291.

15) Weber 1977, S. XVI.

16) Zit. nach: Weber 1977, S. 10.

17) Roßteuscher 1886, S. 346.

18) Ebd., S. 346 f.

19) Zit. nach: Weber 1977, S. 26.

20) Zit. nach: Roßteuscher 1886, Beilage, S. 82. 87.

21) Vgl. zum Folgenden v.a.: Schröter 1996.

22) Neue Apostelgeschichte, S. 166.

23) Ebd., S. 167.

24) Geschichte, ältere Ausgabe, S. 51.

25) Woodhouse 1863, S. 11.

26) Schröter 1996, S. 161 f.

27) Vgl. ebd., S. 162 ff.

28) Vgl. ebd., S. 165.

29) Zit. nach: Obst 1990, S. 55.

30) 100 Jahre, S. 346.

31) Schröter 1996, S. 174 f.

32) Friedrich Krebs, S. 31.

33) Fritz Krebs, S. 47 f.

34) Ebd., S. 49.

35) Abgedruckt in: Neue Apostelgeschichte, S. 184 ff.

36) Ebd., S. 185.

37) Ebd., S. 186.

38) Ebd.

39) Ebd., S. 186 f.

40) Vgl. zum Folgenden v.a. seine Biographie.

41) Fritz Krebs, S. 78. 80.

42) Ebd., S. 83.

43) Ebd., S. 86.

44) Obst 1990, S. 69.

45) Hutten 1997, S. 432.

46) Fritz Krebs, S. 94 f.

47) Hermann Niehaus, S. 60.

48) Fritz Krebs, S. 32.

49) Ebd.

50) Ebd.

51) Ebd., S: 25.

53) Geschichte, ältere Fassung, S. 63.

53) Hutten 1968, S. 634.

54) Ebd., S. 635.

55) Ebd., S. 637 f.

56) Vgl. zum Folgenden v.a. seine Biographie.

57) Handtmann 1907, S. 26 f.

58) Obst 1990, S. 78.

59) Hutten 1968, S. 638.

60) Der Größte, 1928, S. 59.

61) Zit. nach: Hutten 1997, S. 476 f.

62) „Vgl. zum Verhalten der Neuapostolischen Kirche und ihrer Leitung im Dritten Reich: König/Marschall 1994; Obst 1996, S. 50 ff. „

63) Zit. nach: Obst 1990, S. 81.

64) Zit. nach: Obst, ebd.

65) Zit. nach: Obst, ebd., S. 82.

66) Ebd.

67) Ebd.

68) Walter Schmidt, S. 64.

69) „Vgl. Geschichtlicher Rückblick, 1975, S. 14; s.u.. „

70) Zit. nach: Obst 1990, S. 85.

71) Ebd.

72) Walter Schmidt, S. 70 ff.

73) Ebd., S. 73.



AUF EINEN BLICK

Die Welt der Neuapostolischen
Die Welt der Neuapostolischen

Literaturhinweise:

Wir empfehlen die Bibelübersetzung von Franz Eugen Schlachter in der Version 2000

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