Andreas M.*
Dieser sehr interessante Brief gibt Auskunft über die Fälschungen und Verzerrungen innerhalb der neuapostolischen Literatur und damit einhergehend in der Lehre der NAK. Es geht dem Briefschreiber nicht darum einen Skandal zu proklamieren, doch sein Brief ist sein Zeugnis über seinen Ausstieg aus der Neuapostolischen Kirche, er ist nicht mehr neuapostolisch.
Lieber Bruder Ehlebracht,
hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass meine Tochter und ich,
Andreas M., geb. 31.02.1960
Claudia M., geb. 31.11.1985
hiermit aus der Neuapostolischen Kirche (NAK) austreten, was wir bereits amtsgerichtlich getan haben.
Ich möchte Ihnen kurz die wichtigsten Gründe darlegen, schon mit Rücksicht auf die mir zugeordneten Amtsträger in meiner (ehemaligen) Gemeinde, die eine Kopie dieses Briefes zur Kenntnisnahme erhalten und denen dieser Schritt zunächst einmal unverständlich erscheinen mag. Zudem soll dieser relativ lange Brief dem Umstand Rechnung tragen, dass ich mich schriftlich besser auszudrücken vermag, als mir dies in einem „Klärungsgespräch“ möglich wäre.
Es geht mir nicht um Skandale, denn Skandale finden sich überall und in jeder Konfession, wenn man nur genau genug hinschaut, denn in allen Konfessionen wurde viel gesündigt und die auf Erden sichtbare Kirche wird sicherlich in vielerlei Hinsicht nicht ihrer himmlischen Berufung gerecht. Manche treten heutzutage mehr aus purer Entrüstung aus über das Fehlverhalten einzelner ‚Segensträger‘ oder wegen einiger Missstände im Allgemeinen.
Ich möchte meinen Austritt als einen Schritt im Glauben, zu dem mich Gott und meine Überzeugung leiten, verstanden wissen.
Mir geht es um unbiblische Standpunkte sowie um eine so krasse Diskrepanz zwischen dem Glaubensgut der katholisch-apostolischen Gemeinden (‚englische Apostel‘) und der Lehre der Neuapostolischen Kirche, sodass man mit Fug und Recht sagen kann, dass außer einer historischen Verbindung (die Abspaltung von 1863) keine grundlegenden Gemeinsamkeiten mehr existieren, wenn auch durch diverse Reportagen in der Zeitschrift ‚Unsere Familie‘ versucht wird, im Nachhinein eine geistige Verwandtschaft zu konstruieren.
Ich möchte dies anhand von zwei Punkten, nämlich dem Kirchenbegriff sowie dem Wesen der Wassertaufe verdeutlichen, was meines Erachtens die Grundübel in der Neuapostolischen Kirche bloßlegt und zugleich deren Sektencharakter im Gegensatz zur ökumenischen Bewegung der katholisch-apostolischen Gemeinden verdeutlicht:
In der Originalausgabe des ‚Testimoniums‘, dem ‚Zeugnis der Apostel an die geistlichen und weltlichen Häupter der Christenheit‘ von 1836 heißt es direkt zu Beginn im zweiten Satz: „Die Kirche Christi ist die Gemeinschaft aller, ohne Unterschied der Zeit und des Landes, welche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und durch Ihre Taufe von allen anderen Menschen ausgesondert sind.“
In der 1932 vom Apostelkollegium der Neuapostolischen Gemeinden herausgegebenen Fälschung des o.g. Testimoniums, die mir in der Originalausgabe von 1932 vorliegt (ich sage hier bewusst ‚Fälschung‘, da nicht nur wesentliche Teile weggelassen wurden, sondern auch völlig andere Passagen eingefügt wurden, ohne dies entsprechend zu kennzeichnen – ein Skandal, der auch durch die theologische Fachpresse ging; vgl. Materialdienst des EZW – Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 09/1990, S. 261 ff.) heißt es an der gleichen Stelle: „Die Kirche Christi ist die Gemeinschaft aller, ohne Unterschied der Zeit und des Landes, welche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft und durch ihre Wasser- und Geistestaufe von allen anderen Menschen ausgesondert sind.“
Hier wird also die neuapostolische Lehre von der Geistestaufe (‚Versiegelung‘) durch ‚lebende Apostel‘ zu einer zusätzlichen Bedingung gemacht, um zur Kirche Christi zu gehören.
Dieses Verständnis von ‚Kirche‘ wurde dann konsequenterweise in der Frage 167 des z.Z. gültigen Katechismus der NAK kodifiziert: „167. Wer ist die Neuapostolische Kirche? Die Neuapostolische Kirche ist die Kirche Jesu Christi …“ – Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, S. 77
Daraus folgt, dass allein neuapostolische Christen zur Kirche Christi gehören. Welch eine Anmaßung – Paulus war ein in die Nachfolge Christi eingetretener Jude, von neuapostolisch steht nichts in der Schrif. Daraus folgt weiterhin, dass alle Christen, die zwischen dem Dahinscheiden der ersten Apostel und dem ‚Apostolat der Endzeit‘ (=ca. 1800 Jahre) getauft wurden, sowie die Milliarden von Christen, die heute auf der Erde leben, aus neuapostolischer Sicht nicht zur Kirche Christi gehören – und sich damit im Grunde nicht viel von Heiden unterscheiden.
So etwas wäre bei den katholisch-apostolischen Gemeinden undenkbar gewesen. So heißt es im Katechismus der katholisch-apostolischen Gemeinden von 1914 in der Frage Nr. 32: „32. Frage: Du hast gesagt, du glaubst an die ‚heilige katholische Kirche‘ Was ist nun die Kirche? Antwort: Die Kirche ist die Versammlung aller, die an den Herrn Jesus Christus glauben und nach seinem Gebot getauft sind. Sie ist die Haushaltung Gottes, der Leib Christi, der Tempel des Heiligen Geistes.“
Um in der Bildersprache des Apostels Paulus zu reden, der die Kirche mit dem menschlichen Körper vergleicht, wo Christus (und kein anderer Mensch) das Haupt ist und ‚wir die Glieder‘, so könnte man sagen, dass die Neuapostolische Kirche sich als Hand betrachtet, die sich selbst vom Leibe abgehackt hat und sich für sehr lebendig erklärt, während sie den Rest des Leibes für tot und verwest hält (obwohl von der Natur her die umgekehrte Aussage zutreffender wäre).
Im obigen Auszug aus dem katholisch-apostolischen Katechismus ist mit ‚Taufe‘ eindeutig die Wassertaufe gemeint, die nach katholisch-apostolischer Sicht bereits ein ‚Sterben in Christus‘ sowie ein ‚neu geboren werden‘ – somit die in neuapostolischen Kreisen viel zitierte Gotteskindschaft – darstellt. So grenzt der englische Apostel Cardale die Gabe des Heiligen Geistes – vermittelt durch die Apostolische Handauflegung (‚Versiegelung‘) – die in den katholisch-apostolischen Gemeinden an den Getauften ab dem 20. Lebensjahr vollzogen wurde – von der Wassertaufe, die die EINE neue Geburt darstellt und die damit alle Christen zu Brüder und Schwestern in Christus macht:
„Es gibt also eine Gabe des Heiligen Geistes, die von der Taufe mit Wasser unterschieden werden muss. Dennoch darf die Gabe des Heiligen Geistes in der neuen Geburt nicht von der Taufe mit Wasser getrennt werden – die lebensschaffende, wiedergebärende Kraft, wodurch Christus, der lebendig machende Geist, alle, die ihm der Vater gibt, lebendigmacht durch den Heiligen Geist.
Diese zweite Geburt, die für alle notwendig ist zum Eintritt in das Reich Gottes, ist eine Geburt aus Wasser und Geist. Es kann, wie gesagt, nicht zwei neue Geburten geben, und die eine Geburt aus Wasser und Geist kann auf keinem anderen Wege empfangen werden als durch die Taufe mit Wasser, welche die Apostel nach dem Befehl des Herrn allen Jüngern erteilen sollen. … Hat nun der Reumütige und der Gläubige in der Taufe die zweite Geburt durch Wirkung des Heiligen Geistes empfangen, so ist er von da an ein berechtigter Kandidat und erwartungsvoller Erbe des Reiches Gottes. Nun darf er mit Recht die weitere Verheißung erwarten, nämlich jene Gabe des Heiligen Geistes, die das Unterpfand des Erbes und die Erstlingsfrucht des Reiches ist.“ – John Bate Cardale: Vorlesungen über die Liturgie und die die anderen Gottesdienste der Kirche. Die Heilige Taufe nach Schrift und Tradition, Basel, 1879, S. 69
Auf Seite 70 dieser ausgezeichneten, 143 Seiten umfassenden Arbeit über die Taufe, führt Cardale mit Bezug auf Apostelgeschichte 8 nochmals klar aus: „Hieraus erkennen wir deutlich: obwohl in der Taufe die Gläubigen wiedergeboren werden aus Wasser und Geist, so wird doch der Ordnung gemäß nach der Taufe und durch Handauflegung der Apostel jene Gabe des Heiligen Geistes erteilt, von der mit Nachdruck gesagt wird: Der Heilige Geist fiel auf die Gläubigen und sie empfingen den Heiligen Geist.“
Demgegenüber bezeichnet der neuapostolische Katechismus in der Frage Nr. 195 die Wassertaufe nur als einen Bestandteil der Wiedergeburt und damit werden alle Christen, die nicht die neuapostolische Versiegelung empfangen haben, zu geistlichen Totgeburten erklärt – eine sektiererischere Auffassung kann es kaum geben.
Dies wurde mir so recht deutlich, als sowohl mein Gemeindevorsteher als auch der für diesen Bezirk zuständige ‚Apostel‘ meiner römisch-katholischen Ehefrau, die mit der Taufe unserer Tochter in der NAK einverstanden war, verweigern wollten, unsere Tochter auf dem Arm zur Taufe nach vorne zu tragen, „da sie ja nicht neuapostolisch sei“. Der neuapostolische Ehemann (der das Kind allerdings nicht 9 Monate unter dem Herzen trug) solle dies besorgen.
Hier kann ich nur noch Ludwig Albrecht zitieren, einen Diener der katholisch-apostolischen Gemeinden, der bezüglich der Beglaubigung von Aposteln schreibt: „Ebenso sollen die Apostel nicht trennen, sondern einen, nicht zerreißen, sondern bauen. Sie lösen die, welche sie als Boten Gottes aufnehmen und die Segnungen ihres Amtes begehren, nicht von der Kirche ab; sie stellen vielmehr die Einheit der Kirche wieder her, sie fordern die Christen auf, alle Namen der Spaltung und Uneinigkeit abzutun und des einen Bruderbundes zu gedenken, in den wir durch die Taufe aufgenommen sind; sie lehren durch Wort und Tat, alles noch vorhandene Gute, wo es sich in der Kirche findet, mit Dank gegen Gott anzuerkennen, alle pharisäische und sektiererische Gesinnung abzulegen und die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens mit allen Getauften festzuhalten.“ – Ludwig Albrecht: Abhandlungen über die Kirche, besonders ihre Ämter und Gottesdienste, Bremen, 1896, S. 69
Auf die z. T. gerechtfertigten, wenn auch teilweise etwas überzeichneten, üblichen Anklagen gegen die NAK, wie sie z.Z. in den Massenmedien Erwähnung finden und auf die Stammapostel Fehr nur ausweichende genauer gesagt polemische Antworten geben konnte (psychischer Druck, Erzeugung von unbewussten Ängsten und Zwängen, gesellschaftliche Isolation, Bewachung und Bespitzelung sowie massive Einflussnahme auf das Privatleben der Mitglieder, NSDAP-Mitgliedschaft führender Bezirksapostel schon 1933, massive Unterstützung des Nazi-Regimes, gezielte Manipulation von Kindern, keine Offenlegung der Finanzen, kaum soziales Engagement), möchte ich hier nicht näher eingehen, da sie meines Erachtens eher eine Folge der o.g. Grundübel darstellen.
Vielmehr zwingt mich der Anspruch, Apostel Jesu Christi sein zu wollen, dazu, nicht mehr einfach nur kritisches und leidendes Mitglied zu sein. Meine obigen Ausführungen zu ‚Kirche‘ und ‚Taufe‘ sind keine kleinkarierte Paragrafenreiterei mit seelenlosen Katechismen, sondern ich muss daher als Schlussfolgerung den ‚Aposteln‘ der NAK und auch den ‚Aposteln‘, die in den zahlreichen Abspaltungen von der NAK (hier setzen sich die gleichen oben genannten Grundübel unter etwas anderen Rahmenbedingungen fort) wirken, eine fatale Unkenntnis in den Anfangsgründen christlicher Lehre konstatieren. Und worauf soll der Glaube ruhen (der Glaube an den Herrn und das Haupt der Kirche: Jesus Christus – und nicht der Glaube an Menschen), wenn sich schon im Fundament Risse zeigen?
Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn viele Aussteiger aus der NAK nicht den Weg zu den (immer mehr ökumenisch gesinnten) Großkirchen finden und sich im Atheismus und Materialismus verlieren oder wieder in eine andere extreme Sekte eintreten, da sie nur einen Glauben an Menschen kennengelernt haben, die als ‚Kanäle des Segens‘ zwischen Gott und den Gläubigen fungieren sollen – verbunden mit einem heimeligen familiären Gefühl, das eine zahlenmäßig relativ kleine Gruppe vermittelt, die sich selbst als die ‚Auserwählten‘ bezeichnet, und die sich als DIE kleine Herde von anderen kleinen Herden absondert. Hinzu kommen Kontaktängste mit anderen Christen, die man ja vorher noch eher mitleidig belächelt hatte.
Gerade die neuapostolischen Apostel selbst geben Zeugnis von einem Menschenglauben, in dem sie vor Ihrer Ordination zum „Apostel“ eine Hörigkeitserklärung an den ‚Stammapostel‘ (‚das sichtbare Haupt der Kirche Jesu Christi‘ lt. Frage Nr. 177 des NAK-Katechismus) unterschreiben müssen, was ein Apostel mit einer persönlichen und unmittelbaren Sendung von Jesus Christus niemals machen würde noch könnte: Artikel 4.2 „Neu zu ordinierende Apostel sind vor ihrer in einem Gottesdienst durchzuführenden Einsetzung durch Abgabe des folgenden Gelöbnisses dem Stammapostel oder seinem Vertreter gegenüber feierlich zu verpflichten: ‚Vor Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden gelobe ich, dem Stammapostel im Gehorsam des Glaubens zu folgen …‘“ – Statuten der Neuapostolischen Kirche International in der Fassung vom 1. Juni 1990, S. 7
Hier kann ich auch nur wieder Ludwig Albrecht (s. o.) zitieren: „Es ist unbedingt erforderlich, dass ein Apostel eine unmittelbare Sendung durch Jesus Christus und Gott den Vater empfangen hat. … Als unmittelbar Gesandte des Herrn sind sie auch keinem Menschen, sondern allein Christus, dem Haupt der Kirche, Rechenschaft schuldig (1. Kor. 4, 3-4)“ – Ludwig Albrecht: Abhandlungen …, a. a. O., S. 61, 62
Ich hoffe, Ihnen und ihren Amtsbrüdern damit meinen Standpunkt in Grundzügen vermittelt zu haben, um meinen Austritt nachzuvollziehen zu können. Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass dies keine persönliche Anklage sein soll und ich besonders den Amtsträgern meiner (ehemaligen) Gemeinde keine schweren Vorwürfe machen kann, mal abgesehen von dem o.g. Vorfall mit der Taufe, aber dies ist ja – wie gesagt – systembedingt. Viele arbeiten ja mit vollem und ehrlichem Engagement in der NAK und nur die wenigsten handeln wohl wider besseres Wissen oder gar mit böser Absicht. Ich habe in der NAK und auch in Abspaltungen von ihr viele Menschen kennengelernt, die mit beachtenswerter Konsequenz ‚ihres Glaubens leben‘, was immer für ein Glaube das auch sein mag. Herzlichkeit und Menschlichkeit des Einzelnen sowie eine gewisse natürliche Frömmigkeit sind Gott sei Dank keine Privilegien besonders ‚Erleuchteter‘ oder besonders Strebsamer, sondern eine Gabe Gottes, die sich überall noch findet.
Den relativ scharfen Stil dieses Briefes bitte ich mit der Begründung zu entschuldigen, dass eine präzise sachliche Auseinandersetzung und eine eindeutige Stellungnahme auch klare Worte erforderlich machen.
Bezüglich der von mir öfters erwähnten Unterschiede ‚katholisch-apostolisch‘ und ‚neuapostolisch‘ finden Sie in der Anlage einen Auszug aus der Dissertation von Albrecht Weber: ‚Die katholisch-apostolischen Gemeinden. Ein Beitrag zur Erforschung ihrer charismatischen Erfahrung und Theologie‘, 1977.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Bruder in Christus
*Namen und Orte wurden geändert!
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