Der Neuapostolische Kirche ihre Entstehung und ihre Ursprünge, Kritik am Werden einer Glaubensgemeinschaft. Jeder, der die Neuapostolische Kirche im Kern verstehen will, muss sich mit ihrer Entstehung und ihren Ursprüngen befassen.
Von Dr. theol. Lothar Gassmann, Auszüge aus einer Vorlesung an der Freien Theologischen Akademie Gießen.
Gibt es wieder Apostel? Vertreter der Neuapostolischen Kirche, aber auch anderer „apostolischer“ Kirchen und Gruppen (z.B. Katholisch-Apostolische Kirche, Apostelamt Juda, Apostelamt Jesu Christi, Reformiert-Apostolischer Gemeindebund, Apostolische Gemeinde) sind dieser Ansicht und haben neue Apostel berufen.
Wie kam es dazu? Geschah dies zu Recht und in Einklang mit dem Wort der Heiligen Schrift? Um diese Fragen soll es in Folgenden gehen.
Es kann sich hier aus Platzgründen um keine umfassende Darstellung der Neuapostolischen Kirche handeln, sondern nur um eine Skizze ihrer Geschichte und eine Beschränkung auf die Frage nach dem Geistverständnis und neuen Apostolat. Eine ausführliche wissenschaftliche Darstellung sowie die Behandlung weiterer wichtiger Themen im Zusammenhang mit der neuapostolischen Lehre und Praxis (z.B. Verhältnis von Bibel und Apostellehre, Anthropologie, Christologie, Eschatologie sowie Taufe, Versiegelung und Abendmahl für Lebende und Tote (1) gedenke ich, soweit Gott mir Zeit und Kraft hierzu schenkt, zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff zu nehmen. (2)
Die folgenden Ausführungen gehen auf eine Vorlesung zurück, die ich Mitte der neunziger Jahre an der Freien Theologischen Akademie Gießen hielt (der Redestil wurde beibehalten). Mögen sie allen Leserinnen und Lesern zur Klärung verhelfen und zum Segen dienen.
Die Neuapostolische Kirche ist hervorgegangen aus der Katholisch-Apostolischen Kirche – zumindest nach ihrem Selbstanspruch, aber schon hier setzt das Problem an, denn die Katholisch-Apostolische Kirche erkennt die Neuapostolische Kirche nicht an. Die Entwicklung von der Katholisch-Apostolischen Kirche (die es heute noch gibt) bis zur Neuapostolischen Kirche verlief kompliziert. Von verschiedenen Abspaltungen und Splittergruppen wird noch die Rede sein. Jedenfalls war seit 1835 die Katholisch-Apostolische Kirche vorhanden. 1863 hat sich als Abspaltung davon die „Allgemeine Christliche Apostolische Mission“ herausgebildet. Die aus dieser hervorgegangene Gruppe, die zunächst „Allgemeine Apostolische Mission“ hieß und zur Neuapostolischen Kirche wurde, trug dann ab 1907 den Namen „Neuapostolische Gemeinde“ und ab 1930 den Namen „Neuapostolische Kirche“. Der holländische Zweig, der wichtig ist, denn dieser ging dem deutschen voraus, hieß „Hersteld Apostolische Zending Gemeente“. Der nordamerikanische Zweig trug den Namen „First General Apostolic Church in Chicago, Illinois“.
Um die Geschichte der Neuapostolischen Kirche zu betrachten, müssen wir zunächst die Geschichte der Katholisch-Apostolischen Kirche darstellen. (3) Diese existiert heute noch in verschwindend kleinen Gruppen in verschiedenen Städten, die aber in der Regel so unauffällig sind, dass keiner weiß, dass sich da wirklich katholisch-apostolische Gemeindeglieder treffen. Die Versammlungsräume und Kirchen sind häufig nicht mehr als solche von außen zu erkennen, aber es gibt sie noch, wenn auch in einer abnehmenden Zahl. Man schätzt, dass noch einige tausend Menschen in Deutschland die katholisch-apostolischen Gottesdienste besuchen.
Worum handelt es sich bei der Katholisch-Apostolischen Kirche? Ihre Geschichte begann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Hervortreten vergessener Charismata (Gnadengaben, Geistesgaben). 1820/21 gab ein Geistlicher der anglikanischen Kirche zwei Schriften heraus, die zu Gebetsversammlungen an einem bestimmten Tag der Woche für eine besondere Ausgießung des Heiligen Geistes aufriefen. Man erstrebte also eine Art „charismatische Erneuerung“. Der Verfasser hieß James Haldane Stewart (1776-1854), und seine Schriften waren wohl die Auslöser für viele der nachfolgenden Ereignisse. Die erste Schrift trug den Titel „Hints for a general union for prayer for the outpouring of the Holy Ghost“ („Hilfeleistungen für eine Generalvereinigung zum Gebet für das Ausschütten des Heiligen Geistes“). 1820 veröffentlicht, erreichte diese Schrift in vier Jahren in England, Schottland und Irland 322.000 Exemplare Auflage.
Die weitere Schrift von ihm „Thoughts on the Importance of special Prayer for the general outpouring of the Holy Ghost“ („Gedanken über die Bedeutung des speziellen Gebetes für die allgemeine Ausschüttung des Heiligen Geistes“) erschien erstmals 1821 mit einer etwas geringeren Auflage von 89.000 Exemplaren in den Folgejahren. Viele Menschen haben diese Schriften gelesen und wurden dadurch zu Gebetsversammlungen veranlasst, um eine neue Ausschüttung des Heiligen Geistes und der Geistesgaben zu erbitten. Diese Gebete wurden sehr bald erhört. Bereits in den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam es an drei Hauptschauplätzen zu „Geistesaufbrüchen“, und zwar mit den Gaben der Prophetie, Weissagung, Glossolalie (Zungenreden) und Krankenheilung.
Der erste Hauptschauplatz war seit 1828 die kleine römisch-katholische Gemeinde Karlshuld auf dem Donaumoos in Bayern/Deutschland. Der zweite lag seit 1830 im westlichen Schottland, im Kreis reformierter Christen, der dritte in London ab 1831, wo häusliche Gebetsversammlungen in anglikanischen Kreisen stattfanden. Diese drei Wurzeln: Karlshuld, Schottland und England mit Sitz in und bei London sind nachfolgend näher zu betrachten.
Was geschah zunächst in Karlshuld? Dort lebte der junge römisch-katholische Priester Johann Lutz. Dieser hatte ein starkes Erlebnis: Von seinen Sünden überwältigt und nahe am Abgrund der Verzweiflung, hatte er jahrelang mit Fasten, Beten und Wachen nach den Regeln der katholischen Kirche versucht, Licht und Trost zu finden. Aber es war alles umsonst gewesen, bis schließlich übernatürliche charismatische Phänomene (Zungenreden, Weissagung) in seiner Gemeinde auftraten. Es ist unwahrscheinlich, dass der Anstoß hierzu von England und Schottland kam. Wahrscheinlich wurde Lutz unabhängig davon mit den Geistesgaben konfrontiert. Man vermutet, dass es auch in Deutschland Parallelen in diese Richtung gab, unabhängig von den englischen Schriften Stewarts.
Jedenfalls beteten immer mehr Menschen, von Lutz` Predigt angeregt, um diese besonderen Glaubenserfahrungen und Geistesausgießungen. 1828 wurden von verschiedenen Einzelpersonen Worte geäußert, die als „Worte der Weissagung“ gedeutet wurden. Lutz glaubte daran, dass dies alles von Gott komme, nicht vom Teufel, und dass dies eine Wiederbelebung der urchristlichen Gaben des Geistes sei. In diesen Gesichten und Weissagungen wurde verlautbart, dass Gottes Gericht nahe sein, dass Christus bald kommen würde und dass er Botschafter schicken wolle. „Der Herr sagte: ‘Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden…’“. Diese Worte wurden oft wiederholt und hinterließen einen tiefen Eindruck auf Lutz und verschiedene Gemeindeglieder. Lutz kam erst 1842 durch den schottischen „Propheten“ William Caird in persönlichen Kontakt mit den englischen Kreisen und wurde 1859 – nach seiner Exkommunikation aus der Römisch-Katholischen Kirche – zu einem Engel (Bischof) der Katholisch-Apostolischen Kirche geweiht.
Aufschlussreich ist, dass über diese Aufbrüche und auch über die folgenden in England in den neuapostolischen Werken „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (S. 13 ff.) und „Neue Apostelgeschichte“ (S. 27. 73 ff.) berichtet wird. Diese Aufbrüche werden also vonseiten der Neuapostolischen Kirche als „Vorläufer-Bewegungen“ betrachtet (ganz im Unterschied zur Sicht katholisch-apostolischer Vertreter, die sich gegen diese Vereinnahmungen wehren; s.u.).
Die anderen „Aufbrüche“ fanden in Schottland und England statt. Über den schottischen Aufbruch heißt es in der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (S. 16): „Ein einfacher Zimmermann in Schottland, Jakob Grubb, war es, durch den Gott sprach …“ Grubb war offenbar ein Auslöser: Durch seine Handauflegungen und Inspirationen kamen andere mit diesem Geist in Berührung. Jakob Grubb „sprach vom Kommen des Herrn, und davon, dass er vorher noch eine besondere Arbeit in seiner Kirche verrichten wolle“. Er sprach „von einem scheinenden Licht, das sie erleuchten würde, von einer Wolke, die wie eine Menschenhand aussähe und die anwachsen solle, um alles zu bedecken.“ Und diese Menschenhand wird von neuapostolischer Seite als Handauflegung der neuen Apostel interpretiert.
Die Familie Campbell lebte nun nicht weit von der Hütte Grubbs entfernt. Der Vater Campbell war ein Geistlicher und hatte zwei Töchter. Die ältere Tochter hieß Isabell. Diese wurde wie eine Heilige verehrt. Menschen pilgerten zu ihr hin. Es gab offensichtlich auch da schon besondere Gaben und Erscheinungen. Isabell ist allerdings früh an Tuberkulose verstorben. Der Geist und die Verehrung gingen dann auf ihre Schwester Mary über. Beide Mädchen hatten die „Gabe der Weissagung“ besessen und Visionen und Gesichte gehabt.
Dieses Phänomen wird in der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ (S. 16) als eine Erfüllung von Joel 3, 1 gedeutet: „Und eure Söhne und Töchter sollen weissagen; und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen.“ – „Diese Zeit war nun gekommen“, wird behauptet. Nun wurde auch Mary Campbell eines Tages schwer krank. „Lungentuberkulose“ lautete wie bei ihrer Schwester die Diagnose. Und nun heißt es weiter:
„An einem Abend lag sie dort, ohne ein Wort zu äußern, in stillem Gebet vertieft. Zwei Freundinnen waren bei ihr zu Besuch. Plötzlich erhob sie sich und trat auf ihre Füße. Sie redete in einer Sprache, die keiner der Anwesenden verstehen konnte … Sie wurde mit Kraft und Stärke angefüllt; denn aus eigener Kraft konnte sie diese besonderen und geheimnisvollen Worte nicht äußern. Dann legte sie sich wieder auf ihr Bett und war so schwach wie zuvor. Dies geschah am 21. März 1830.“ (4)
Nun gab es eine weitere Familie, die auf der anderen Seite des Clyde River in Schottland wohnte, die Familie MacDonald. Hier lebten zwei Brüder und eine Schwester zusammen: Georg, Jakob und Margaret MacDonald. Auch ihnen wurden die Gaben der Weissagung und das Reden in fremden Zungen offenbar:
„Es war an einem Sonntag ; eine ihrer Schwestern mit einer Freundin, die zu diesem Zweck in das Haus gekommen, hatte den ganzen Tag in Demütigung vor Gott, Fasten und Gebet zugebracht mit besonderem Hinblick auf die Wiederherstellung der Geistesgaben. Am Abend waren sie in das Krankenzimmer der Schwester (Mary Campbell; L. G.) getreten, die auf einem Sofa lag; sie waren da mit mehreren Hausgenossen im Gebet begriffen, als mitten in ihrer Andacht der Heilige Geist mit gewaltiger Kraft über das kranke Weib, die in ihrer Schwäche dalag, kam und sie zwang, lange und mit übermenschlicher Kraft in einer unbekannten Sprache zu reden zum Erstaunen aller, die es hörten, und zu ihrer eigenen großen Erbauung und Freude in Gott, denn ‘wer mit Zungen redet, erbauet sich selbst.’
… Gleichzeitig lebte am anderen Ufer des Clyde in der kleinen Stadt Port Glasgow eine wegen ihrer Gottesfurcht und Frömmigkeit allgemein geachtete Familie, namens MacDonald, bei der sich alsbald ähnliche Zustände einstellten. Die beiden Brüder James und George lebten mit einer kranken Schwester zusammen, die zuerst vom Geist ergriffen wurde. James … war einst um Mittag von seiner Arbeit nach Hause zurückgekehrt, als er seine leidende Schwester mitten in den Konvulsionen (Zuckungen, verbunden mit einem Aufbäumen des Körpers; L. G.) jener neuen Inspiration fand.
Die erschrockene und betroffene Familie schloss daraus, dass sie ihrem Ende nahe sei; da wandte sie sich in langer Rede an James und schloss mit dem Gebet, dass er sofort möge mit der Kraft des Heiligen Geistes begabt werden. Augenblicklich sagte James ruhig: ´Ich habe sie.` Er trat an’s Fenster und stand dort ruhig einige Minuten; seine Züge nahmen eine andere Gestalt an, mit majestätischem Schritt trat er an das Bett der Schwester und redete sie mit den Worten des 20. Psalms an: `Erhebe dich und stehe aufgerichtet!` Er wiederholte die Worte, fasste sie bei der Hand und sie stand auf.
Die Schwester hatte sich nicht nur für den Augenblick erhoben, sie war geheilt und sofort schrieb der Bruder an die anscheinend dem Tode nahe Mary Campbell und richtete an sie dieselbe Aufforderung mit demselben Erfolg (also eine ´Fernheilung` per Brief; L. G.). Die Kranke empfing den Brief mitten in der äußersten Schwäche, aber ohne hilfreiche Hand stand sie auf, erklärte sich für geheilt und war dem Leben wiedergegeben. Oft ließ sie sich nun als Inspirierte in großen Versammlungen hören, während die mehr nüchternen MacDonalds still und zurückgezogen ihre frühere Lebensart beibehielten“. (5)
Diese Ereignisse verursachten großes Aufsehen bis nach London. In der Nähe von London gab es seit 1826 die Albury-Konferenzen, benannt nach dem schloss und Sitz des englischen Bankiers Henry Drummond (s.u.). Dort hatte man auch schon um die Wiederbelebung der urchristlichen Geistesgaben gebetet. Um die Phänomene zu untersuchen, reisten Teilnehmer der Albury-Konferenzen nach Schottland und sagten danach: „Hier sind die gleichen Gaben nach 1. Korinther 12 und 14 wie in der Urkirche – Glossolalie, Krankenheilungen und Weissagungen und ähnliches.“ Alles das geschah wohlbemerkt fast ein Jahrhundert vor Beginn der Pfingstbewegung.
Unter denen, die zu Campbells und MacDonalds reisten, waren der Londoner Rechtsanwalt Cardale, auf den ich noch mehrmals eingehe, und zwei Ärzte, Dr. Row und Dr. Thompson. Diese blieben einen ganzen Monat in Glasgow und studierten die Phänomene. Sie schienen ihnen ein echtes Geisteswirken von Gott zu sein.
Welche „Prophezeiungen“ gab es denn in Karlshuld und Schottland? Über die Ereignisse in Karlshuld im Jahre 1828 findet sich folgende Schilderung: „Zwei Personen (ein Mann und eine Frau) bekamen prophetische Gaben, und folgende Punkte waren es vorzüglich, die sehr oft gesagt wurden: Der Herr wolle jetzt seine Kirche wiederherstellen, wie am Anfange: Dieses Heiles und Segens werde er Protestanten, Katholiken u. a. ohne Unterschied teilhaftig machen; er werde wieder Apostel geben und Propheten, wie am Anfange…“, so in einem Brief von Lutz an den katholisch-apostolischen Professor Heinrich Thiersch in Marburg vom 3.2.1852.
Über „Prophezeiungen“ in Schottland berichtet R. Norton in seinem Buch „The Restoration of Apostles And Prophets“ aus dem Jahre 1861 (S. 20 ff.): „Die Zeit ist kurz. Die Zeit ist nahe. Gott kommt näher. Der gelobte Morgen kommt.“ Und eine andere „Prophezeiung“ lautete: „Ich erinnere mich an das Rufen im Geist, ‘Sende uns Apostel, – sende uns Apostel’“.
Die „Prophezeiungen“ waren also ganz deutlich verbunden mit dem Ruf nach Aposteln, nach der Wiederherstellung der Urkirche in ihrer völligen Gestalt mit allen damaligen Ämtern.
Im nächsten Abschnitt wird die besondere Rolle von Edvard Irving in der Anfangszeit der Katholisch-Apostolischen Gemeinden dargestellt:
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