Der „Vater“ der neuen – deutschen – Apostel war ein sogenannter „Prophet“ aus der Katholisch-Apostolischen Bewegung, und zwar ein Prophet, der auch an der Seite von Woodhouse war, dem zuletzt noch lebenden Apostel der Katholisch-Apostolischen Kirche. Dieser Prophet, der sehr einflussreich war, hieß Heinrich Geyer. (21) Er ist im Grunde der Mann, der den Impuls gab zur Entstehung der Neuapostolischen Gemeinde oder Kirche, die damals allerdings noch nicht so hieß. Die spätere Neuapostolische Kirche ist wieder eine Abspaltung von der Gruppe, die Geyer begründet hatte. Die historische Linie lautet: Katholisch-Apostolisch Kirche, „Geyerianer“ („Allgemeine Christliche Apostolische Mission“), und dann die Neuapostolischen.
Wie ist die Entwicklung im Einzelnen verlaufen? Wir betrachten zunächst die Persönlichkeit Heinrich Geyers.
Heinrich Geyer, geboren 1818 in Hardechsen bei Göttingen, war Gerichtsschreiber und Volksschullehrer in Wollbriehausen bei Ußlar. Er hatte Kontakt mit der Bewegung Johann-Hinrich Wicherns (Innere Mission). In Wollbriehausen hatte er das Heim Bethesda für verwahrloste Kinder gegründet. Um 1848/49 kam er in Kontakt mit der Katholisch-Apostolischen Kirche, also mit 30 Jahren, indem er irrtümlich mit der Post eine Schrift des ehemaligen katholisch-apostolischen Pastors Albert Köppen zugesellt erhielt. Als er sich der Katholisch-Apostolischen Kirche anschloss und zu ihr bekannte und auch im Schuldienst öffentlich für sie eintrat, wurde er entlassen.
Einige Jahre später wurde er als Korrektor bei der Neuen Preußischen Zeitung in Berlin angestellt von dem Direktor Herrmann Wagener, der zur Katholisch-Apostolischen Bewegung gehörte. 1849 wurde er Unter-Diakon, 1850 wurde er Priester. Seine Priesterweihe erhielt er übrigens zusammen mit dem später auch einflussreichen Apostel Friedrich Wilhelm Schwarz durch den englischen Apostel Thomas Carlyle. 1852 wurde er Bischof („Engel“) in der Katholisch-Apostolischen Kirche. Geyer hat angeblich die Gaben der Prophetie, der Glossolalie und der Krankenheilung besessen. Er war äußerst einflussreich – nicht nur publizistisch, sondern auch innerhalb der Katholisch-Apostolischen Kirche im deutschsprachigen Bereich. Als maßgeblicher „Prophet“ im „Stamm Norddeutschland“ hat er fast alle Priester und Engel in Norddeutschland zwischen 1852 und 1862 berufen, auch einige in Süddeutschland und in der Schweiz.
1860 kam es zu einem entscheidenden Ereignis in Albury, auf dem Sitz des Bankiers Drummond, der zusammen mit Cardale ja der Begründer der Katholisch-Apostolischen Bewegung war. Am 30. Mai 1860 fand eine Konferenz auf dem Gut in Albury statt – und da weissagte der Prophet Heinrich Geyer folgendes: „Sehne dich nach den Aposteln, welche deine Stühle verlassen haben! Der Herr gibt dir zwei Apostel auf die leeren Stühle zum Unterpfand, dass er auch die übrigen noch besetzen wird, dass eure Schultern nicht zerbrechen, nämlich: Charles Böhm und William Caird als Apostel, denn sie sind als treue Mitarbeiter erfunden worden.“ (22)
Geyer berief unter Behauptung einer direkten angeblichen Eingebung des Heiligen Geistes zwei Mitglieder der Katholisch-Apostolischen Kirche als neue Apostel anstelle der bereits Verstorbenen. Das war problematisch, denn die anderen Apostel hatten sich ja schon früher die Meinung gebildet, dass man keine neuen berufen wollte. Auch jetzt berieten sich die noch lebenden Apostel in Albury. Woodhouse als der Längstlebende hat sich immer geweigert, neuberufene Apostel anzuerkennen. Woodhouse fragte Geyer bereits nach seiner Prophezeiung im Jahre 1860, als insgesamt noch sieben Apostel von den Erstberufenen lebten:
„Haben Sie die Meinung, dass diese zwei Männer jetzt wirklich Apostel sind?“ Geyer antwortete sehr vorsichtig: „Die Apostel haben verordnet, dass die Propheten kein Urteil haben sollen über das Ergebnis ihrer Weissagungen, sondern die Apostel haben das Urteil zu fällen. Ich weiß nur, dass dieses Wort vom Heiligen Geist war, wofür ich verantwortlich bin. Alles übrige überlasse ich den Aposteln..“ Darauf Woodhouse: „Die Apostel verwerfen diese und jede andere Rufung von Aposteln, weil die jetzigen Apostel ausreichen werden bis zur Wiederkunft Christi.“ (23)
Diese Antwort offenbarte eine starke Naherwartung der Wiederkunft Jesu Christi. Die Apostel hatten die Vorstellung: Wir Zwölf, zumindest der Rest von uns, wird leben, bis der Herr wiederkommt.
Geyer als Prophet hatte grundsätzlich das Recht, neue Apostel zu berufen. Das stand den Propheten zu, denn auch der erste, Cardale, war ja von Drummond prophetisch berufen worden. Aber nun wurde die Notwendigkeit neuer Apostelberufungen verneint. Das Recht bestand, aber die Notwendigkeit wurde verneint, weil der Herr ja noch zur Lebzeiten der ersten zwölf Apostel der Neuzeit wiederkommen würde – eine Erwartung, die dann freilich nicht eingetroffen ist.
Im Hintergrund stand auch Offenbarung 4, 4, wo von den „24 Ältesten vor dem Throne Gottes“ die Rede ist. Man sagt in der Katholisch-Apostolischen Bewegung, dass die ersten Apostel der Alten Kirche zwölf sind und die Apostel der Endzeit auch zwölf sind, und das ergibt zusammen diese „vierundzwanzig Ältesten“. Deshalb könne man nicht mehr Apostel berufen.
Die Apostel in Albury waren also fest entschlossen, keinen Apostel mehr aufzunehmen in ihren Kreis. In der „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ heißt es aus der Sicht der heutigen Neuapostolischen hierzu: „Sie haben durch dieses kurzsichtige und menschliche Verhalten bewiesen, dass sie ebenso fehlbare und schwache Menschen waren wie die ersten Apostel der Urkirche, trotz ihrer hohen Stellung im Reich Gottes.“ (24) Plötzlich wird die Vollmacht der katholisch-apostolischen Apostel sehr reduziert, weil sie eben hier nicht im Sinne der späteren Neuapostolischen gehandelt haben.
Woodhouse seinerseits sagte damals über Geyer: „Einige Worte durch Herrn Geyer gesprochen und von ihm selbst so gedeutet, sind von den Aposteln teils ganz anders erklärt, teils sofort als unecht abgewiesen worden.“ (25) Also die Apostel beanspruchen hier die Vollmacht, die Lehre letztendlich zu entscheiden, ob sie zutrifft oder nicht.
Nun gab es weitere Schritte. Die von Geyer berufenen „neuen Apostel“, Caird und Böhm, wurden von den alten Aposteln abgelehnt. Sie wurden allerdings, um die Sache gütlich zu lösen und eine Spaltung zu vermeiden, als Apostel-Co-Adjutoren eingesetzt, als Apostel-Helfer oder -Stellvertreter, welche aber nur im Auftrag der lebenden Apostel handeln durften. Wenn ihr jeweiliger beauftragender Apostel starb, war auch ihr Auftrag zu Ende.
Aber Geyer gab nicht auf. 1862, zwei Jahre später, war der Pfeiler-Prophet Oliver Taplin gestorben. Nun bekam Geyer einen noch größeren Einfluss. Er war jetzt auf dem Höhepunkt seiner Amtstätigkeit.
Nun weilte er zusammen mit Woodhouse, Böhm und dem Marburger katholisch-apostolischen Professor Thiersch in Königsberg, Kaliningrad, wo ein Grundstein für eine neue Kapelle gelegt wurde. Am 10. Oktober 1862 war Geyer abends in der Wohnung zusammen mit dem Baumeister und katholisch-apostolischen Priester Rudolf Rosochacky. Geyer berichtet:
„An demselben Abend, den 10. Oktober 1862, lag der Geist des Herrn so schwer auf mir, dass ich körperlich fast erdrückt wurde. Da mit einemmale kam der Geist Gottes mit Kraft über mich und rief den mit anwesenden Diener Rosochacky zum Amte eines Apostels. Jedoch wurde ihm gesagt, er solle sich nicht in die Angelegenheiten der bisherigen Apostel mengen, sondern ruhig abwarten die Zeit, da Gott ihn vor größerer Versammlung vieler Zeugen bestätigen würde, indem mit ihm eine neue Reihe der Zwölfzahl beginnen würde. Nun, diese Berufung war in aller Ruhe um Mitternacht geschehen, auch von dem Berufenen voll und freudig anerkannt. Weil die öffentlichen Berufungen verworfen waren, bestand sie vorläufig zu Recht; waren doch in England in den vierziger Jahren auch nur im Privatzimmer die Apostel und manche andere Ämter berufen.“ (26)
Geyer spielte ein Doppelspiel. Weil die anderen Berufungen abgelehnt worden waren, berief er jetzt Rosochacky heimlich nachts um Mitternacht in dessen Wohnzimmer.
Woodhouse erfuhr einige Wochen lang nichts von diesen Vorgängen. Geyer konnte zunächst unbehelligt weiter in den Gemeinden wirken. Allerdings kam es dann doch zum offenen Konflikt, aber – wie nach außen hin gesagt wurde – nicht in erster Linie wegen dieser heimlichen Apostelberufung, sondern weil Geyer eine Lehre vertrat, die abwich von der offiziellen katholisch-apostolischen Lehre. Und zwar lehnte Geyer die Vorentrückung ab, die bei den Katholisch-Apostolischen Gemeinden vertreten wurde – also die Ansicht, dass die auserwählten Heiligen oder Gläubigen vor der Trübsalszeit entrückt werden. Das führte nun zu Problemen.
Im November 1862 verkündete Geyer im Gottesdienst in Berlin, „dass der Antichrist in den sieben Greueln vor der Gemeinde offenbar werden solle“. Und damit stellte er die Vorentrückung infrage. Geyer wurde aufgefordert, dies zurückzunehmen, doch weigerte er sich. Er betonte, dass dann, wenn ihm das verboten würde, die Autorität der Apostel über die Autorität der Bibel gestellt würde. Er führte also die biblische Autorität gegen die Autorität der neuen Apostel ins Feld und wollte deren Autorität nur soweit anerkennen, „soweit sie mit der Schrift übereinstimmen.“ (27)
Es gab also hier eine Grundsatzdebatte, die immer wieder auflebte, auch bei den späteren Spaltungen der Neuapostolischen – und zwar die Debatte, ob die Heilige Schrift (Bibel), die neuen Apostel oder die neuen Propheten den Vorzug bezüglich der Autorität haben sollen. Diese Debatte wurde bei den apostolischen Gruppen immer wieder zugunsten der neuen Apostel entschieden.
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