Und nun kommen wir etwas ausführlicher zu sprechen auf eine Schlüsselfigur der Anfangszeit. Es ist der Theologe Edward Irving. Wer war Edward Irving? Geboren am 4. August 1792 in Annan in der schottischen Grafschaft Dumfries, studierte er später an der Universität Edinburgh. Mit 18 Jahren wurde er Lehrer der Mathematik an einer Schule in Haddington, wo er bis 1819 blieb. Er wollte Missionar werden und wurde dann als Hilfsprediger von dem bekannten schottischen Verkündiger Thomas Chalmers nach Glasgow berufen. Dies geschah im Jahre 1819. In Glasgow allerdings konnte er noch nicht durchdringen, er hatte da wenig Erfolg. 1822 schließlich erfolgte seine Berufung nach London, die von dem Presbyterium der kleinen kaledonischen Kirche in Hatton Garden im Zentrum Londons ausging. Das war für den Dreißigjährigen ein großer Schritt.
Irving besaß eine feurige Predigtgabe, konnte die Intellektuellen ansprechen und offenbarte neue Erkenntnisse, die er den Menschen vermitteln wollte. So hatte er bald Zulauf von höchsten Kreisen der Londoner Gesellschaft. Seine Kirche war meistens überfüllt. Deshalb hat seine spätere Amtsenthebung umso größeres Aufsehen verursacht. Unter seinen Zuhörern waren etwa König Georg IV., die Herzöge von York und Kent, Lord Brougham und Canning, viele Größen der Kunst, Wissenschaft und Politik. Diese strömten Sonntag für Sonntag zu der kaledonischen Kapelle. Diese konnte die Menschen bald nicht mehr fassen, und so musste man auf dem Regent Square 1827 extra für Irvings Gemeinde eine neue Kirche bauen. Der Gottesdienst dauerte selten unter zweieinhalb Stunden.
Irving hatte mit der Kirchenleitung bereits ab 1827 Probleme bekommen. Er war Mitglied der schottisch-presbyterianischen Kirche, die einen strengen Calvinismus vertrat. Seine Christologie sei häretisch (eine Irrlehre), warf ihm seine Kirche vor. Im Oktober 1827 kam ein Mann in seine Sakristei und fragte ihn, „ob er in seiner Predigt den menschlichen Leib des Herrn als von sündlicher Substanz bezeichnet habe, ob er glaube, dass der Leib des Sohnes Gottes sterblich, verderbt und vergänglich, wie jeder Menschenleib, gewesen sei?“ Und als er das bejaht hatte, erschien kurz darauf eine Schrift von eben diesem Mann namens Cole, der ihn öffentlich dieser Irrlehre beschuldigte. Irving musste antworten mit der Verteidigungsbroschüre „Christi Heiligkeit im Fleisch“. (6)
Irvings Christologie ist tatsächlich so beschaffen, dass er sehr stark die Menschlichkeit Jesu betont, kaum die Göttlichkeit. Er betrachtet Christus als Repräsentanten der Menschheit, der uns alle verkörpere. Christus sei nur deshalb Christus, weil in ihm der Geist Gottes wohne. Die Geistestaufe mache ihn zu dem, der er sei – und diese könnten wir auch alle erlangen. Irvings Geistbegriff besagt, dass der Geist Gottes die menschliche Natur Christi erfüllt und ihn dadurch zu übernatürlichen Taten befähigt habe. Christus habe das vorweggenommen, was nun jeder Mensch erlangen könne, wenn auch nicht in der Vollkommenheit wie Christus. Irvings Christologie – so möchte ich an dieser Stelle anmerken – ist zwar nicht repräsentativ für die Christologie der Katholisch-Apostolischen Kirche, auch nicht der Neuapostolischen Kirche und auch nicht der Pfingstbewegung, aber eine Schwerpunktverlagerung von der Bedeutung Jesu Christi auf die Bedeutung des Heiligen Geistes ist bei all diesen – in sich unterschiedlichen – Gruppen festzustellen. (7)
Als Irving im Mai 1828 in Edinburgh/Schottland, in seiner Heimat, weilte, lernte er den Geistlichen John Campbell kennen. Dieser John Campbell stammte aus der bereits erwähnten Familie Campbell aus Gairloch im Norden Schottlands. John Campbell hatte auch Probleme mit seiner Kirche und befürchtete, seines Amtes enthoben zu werden, was allerdings erst drei Jahre später, 1831, eintrat. Er lehrte die Ansicht, die gegen den strengen Calvinismus mit seiner doppelten Prädestinationslehre stand, nämlich dass Gott alle Menschen so liebe, dass er für alle seinen Sohn in den Tod gegeben habe. Da Christus für alle gestorben sei, könne er allen vergeben und sie vom Gericht freisprechen. Es existiere also keine Vorherbestimmung zum Heil oder zur Verdammnis, sondern Gottes Liebe gelte universal (Allversöhnung oder Heilsuniversalismus). Durch den Kontakt mit John Campbell und seiner Familie kam Irving auch mit den übernatürlichen Phänomenen in Berührung, die oben bereits geschildert wurden.
Durch die Vermittlung Irvings und anderer Personen kamen diese Gaben der Weissagung, des Zungenredens, der Heilung und Prophetie nach London. Anfang der dreißiger Jahre wurde dort in Gebetsstunden um das Ausgießen des Heiligen Geistes in seiner Fülle gefleht. Die Person, die dazu gebraucht wurde, war zunächst einmal die Frau des Rechtsanwaltes Cardale. Frau Cardale weissagte und sagte: „Der Herr kommt bald, er kommt, er kommt.“ Wir müssen rückblickend sagen: Das ist damals nicht eingetroffen! Insofern haben sich diese „Weissagungen“ als doch nicht von Gott inspiriert erwiesen. Irving aber duldete sie in zunehmendem Maß in seiner Gemeinde.
1830/31 traten drei Zungenrednerinnen in London auf: Mrs. Cardale, die zunächst in Hausversammlungen in Zungen redete; Maria Caird, geb. Campbell, die sich zusammen mit ihrem Gatten William Caird einige Zeit bei Irving aufhielt, dann aber wieder nach Schottland zurückkehrte; und eine Ms. Hall, welche die erste war, die während der öffentlichen Sonntagsgottesdienste in der Regent Square Church in Zungen redete. Und das führte zu Tumulten, Sensationsgier und Auseinandersetzungen in der Kirchengemeinde, in der Presbyterianischen Kirche und schließlich zur Amtsenthebung Irvings. Irving hat nach anfänglichem Zögern dieses öffentliche Zungenreden und die Unterbrechung des Gottesdienstes durch Weissagungen gestattet. Ein Augenzeuge beschreibt die damaligen Vorkommnisse folgendermaßen:
„Ich ging zur Kirche … und war wie gewöhnlich durch Irvings Vorträge und Gebete sehr befriedigt und erbaut; plötzlich aber wurde ich unerwartet unterbrochen durch die wohlbekannte Stimme einer der Schwestern, welche, nicht imstande sich länger zurückzuhalten und die kirchliche Ordnung scheuend, in die Sakristei eilte und dort dem Ausbruche freien Lauf ließ, während eine andere, wie ich hörte, aus demselben Antrieb das Seitenschiff entlang und durch die Haupttür zur Kirche hinauseilte. [Also man muss feststellen, es sind zwanghafte Handlungen. Es ist zu bezweifeln, ob der Geist Gottes Menschen wirklich so zwingt. L.G.] Die plötzlichen kläglichen und unverständlichen Töne wurden von der ganzen Versammlung gehört und verursachten die äußerste Verwirrung.
Das Aufstehen, das Verlangen, etwas zu sehen, zu hören und zu verstehen von jeder der anwesenden 1.500 oder 2.000 Personen machte einen Lärm, den man sich leicht vorstellen kann. Mister Irving bat um Aufmerksamkeit und als die Ordnung wieder hergestellt war, erklärte er den Vorfall, von dem er sagte, dass er nicht neu sei, ausgenommen in dieser Versammlung, wo er die Sache einzuführen lange geschwankt habe. [In den Nebenräumen sowie bei den Abend- und Hausversammlungen gab es diese Phänomene schon vorher.] …
Da aber die Sache nun nach Gottes Willen zum Vorschein gekommen sei, fühle er sich verpflichtet zu gehorchen.[Gott zu gehorchen, wie er meinte. Und er legte nun spontan in diesem Gottesdienst das 14. Kapitel des Korintherbriefes aus, wo es u.a. um das Zungenreden geht]. Die Schwester kehrte eben von der Sakristei auf ihren Sitz zurück und Irving, der sie von seinem Pult aus bemerkte, sagte zu ihr mit freundlichem Tone: ‘Sei getrost, meine Schwester, sei getrost!’ Dann fuhr er in seiner Predigt fort.“ (8)
Im Abendgottesdienst desselben Tages ging es dann noch stürmischer zu. Es gab wüste Tumulte. Und dann heißt es: „Mister Irving hatte seine Predigt fast zu Ende, als eine von den Damen sprach. Das Volk hörte einige Minuten verhältnismäßig ruhig zu. Plötzlich aber fing eine Anzahl Burschen auf der Galerie an zu zischen, dann rief einer Ruhe! Und der eine dies, der andere das, bis die Versammlung, ausgenommen die, welche fest im Glauben an Gott standen, in äußerster Bewegung war … Irving erhob sich sofort und sagte: ‘Lasset uns beten!’ Er tat dies, indem er hauptsächlich die Worte: ‘O Herr, stille das Volk!’ wieder und wieder mit fester Stimme sprach.“ Von nun an wurde das Zungenreden und Prophezeien in Morgengottesdiensten zugelassen, die extra anberaumt wurden. Irving äußerte, er habe „den Verlust von Menschenleben gefürchtet und ein so kostbares Ding wolle er nicht noch einmal in Gefahr bringen“. (9)
Nun kam es zum Prozess gegen Irving, weil er diese Vorkommnisse duldete. In der Anklage berief sich die Presbyterianische Kirche auf ihre Gottesdienst-Ordnung, in der es hieß:
„Sobald der öffentliche Gottesdienst angefangen hat, hat jeder seine ganze Aufmerksamkeit darauf hinzurichten, darf nichts lesen, außer was der Geistliche verliest oder zitiert; er hat sich noch mehr vor allem Flüstern, allem Verkehr mit anderen u.s.w. und vor allem unpassenden Betragen, welches den Geistlichen oder das Volk stören oder sich und andere vom Gottesdienst abhalten könnte, zu hüten.“ (10) Es soll also völlige Konzentration auf das Wort Gottes herrschen, was auch durchaus zu begrüßen ist. Und wenn Tumulte entstanden und Irving Ursachen duldete, welche diese herbeiführten, musste er mit Konsequenzen rechnen.
Ein zweites Argument gegen Irving war mehr theologisch-grundsätzlicher Natur: Die reformierte Westmister-Konfession hält daran fest, dass die Offenbarung Gottes in Form der Bibel vorliegt und als solche abgeschlossen ist, dass also keine neuen Offenbarungen notwendig sind. So heißt es: „Der ganze Rat Gottes … ist entweder ausdrücklich in der Schrift niedergelegt oder kann durch rechte und genaue Folgerungen aus der Schrift abgeleitet werden; niemals und nirgends ist etwas dazuzusetzen weder durch neue Offenbarungen des Geistes, noch durch menschliche Traditionen.“ (11)
Irving hielt dagegen: „Wenn das das Werk des Geistes ist, wer könnte es hindern?“ Und er warf der Kirchenleitung vor, sie stelle gar nicht die Frage, ob das jetzt der Geist Gottes wirke, sondern gehe mit Formgründen gegen ihn vor. Dem könne er sich nicht fügen. „Ist dies das Werk des Heiligen Geistes, die Stimme Jesu in seiner Kirche, wer bin ich, dass ich sie hindern könnte?“, argumentierte er. (12)
Die Anklageschrift der „Trustees“ (das sind die Verantwortlichen für das Kirchengebäude), betonte, Irving würde dulden und erlauben, dass öffentliche Gottesdienste gestört werden, unterbrochen von Personen, die weder Prediger noch Lizentiaten der Kirche Schottlands seien. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, dass Frauen in der Kirche sprechen dürften. Und schließlich, dass er diese Unterbrechungen erlaubt habe. Irving bestritt diese Vorwürfe nicht, wertete die darin genannten Vorkommnisse aber völlig anders:
„Unser Morgendienst wird von ziemlich tausend Menschen besucht, und die Ordnung ist die schönste. Ich rufe den göttlichen Segen an, dann singen wir, ich lese und erkläre ein Kapitel; der Geist bestätigt die Auslegung oder gibt Zusätze und Ermahnungen, nicht zur Unterbrechung, sondern zur Stärkung des Amtes. Dann betet einer von uns Predigern, oder von den Ältesten oder anderen Brüdern, und ich halte kurze Ansprachen mit Pausen dazwischen, in denen der Geist redet durch einen, auch durch zwei oder dreie, Worte, die ich dann aufnehme, auslege, anwende, kurz, so gut mir gegeben wird, zur Erbauung der Gemeinde verwerte.“ (13)
Irving hatte also eine ganz neue Gottesdienstform eingeführt, die natürlich nicht mit der traditionellen Vorstellung der schottisch-presbyterianischen Kirche vereinbar war. Irving predigte und wurde unterbrochen und legte dann das von den „inspirierten“ Personen Gesagte aus. Der Predigtverlauf wurde also immer wieder umgelenkt durch die „direkte Geisteswirkung“.
Irvings Verteidigung konnte seine Amtsenthebung nicht verhindern. Es kam zum Prozess. Im Mai 1832 wurde ihm untersagt, in der Kirche am Regent Square weiterhin lehren zu dürfen. Und dann, wenige Tage später, mietete er einen Saal in London, in dem auch der Utopist Robert Owen seine Vorträge gehalten hatte, mit 800 Plätzen. Er hielt von nun an dort seine Versammlungen ab – oder eben auf den Plätzen und Straßen Londons unter freiem Himmel.
1833 (nach den ersten Apostelberufungen; s.u.) wurde dann ein noch schwerwiegenderes Urteil über Irving gefällt, welches zu seinem Ausschluss aus der schottisch-presbyterianischen Kirche führte. Der Grund war seine bereits erwähnte Irrlehre über die menschliche Natur Christi. Am Schluss der Prozessversammlung geschah etwas Spektakuläres: „Der Vorsitzende wollte eben das Urteil verkündigen und forderte ein Mitglied des Presbyteriums auf, zuvor ein Gebet zu sprechen, als von der Seite her, wo Irving stand, plötzlich eine Stimme erschallte: ‘Auf, zieh fort! Auf, zieh fort! Flieh hinweg! Flieh hinweg von ihr! Du kannst nicht beten! Wie kannst du beten? Wie kannst du beten zu Christo, den du verleugnest?
Du kannst nicht beten! Hinweg, hinweg! Flieh, flieh!’ Allgemeine Verwirrung folgte. Da in der Kirche nur ein Licht brannte, wusste niemand, woher die Stimme kam. Endlich hob einer das Licht in die Höhe und entdeckte den Inspirierten, der sofort die Kirche verließ, gefolgt von Irving, der noch im Gedränge rief: ‘Hinaus, hinaus! Was? Wollt ihr der Stimme des Heiligen Geistes nicht gehorchen? Wer der Stimme des Heiligen Geistes gehorsam ist, gehe hinweg!’ Hiermit hörte Irving auf, ferner Geistlicher der presbyterianischen Kirche zu sein. Er ging nach London zurück und schloss sich der kleinen ‘Apostolischen Gemeinde’ in der Newman Street an.“ (14)
Irving lebte dann allerdings nur noch kurze Zeit. Im Herbst 1834, eineinhalb Jahre später, nachdem er vorher noch zum „Engel“, also zum Bischof der apostolischen Gemeinde, ernannt worden war, ist er aufgezehrt von diesen Kämpfen mit 42 Jahren verstorben. Er wurde in der St. Mungos Kathedrale in Glasgow bestattet, wo über seiner Grabstätte auf einem Gemälde die Figur Johannes des Täufers mit dem Angesicht Edward Irvings dargestellt wurde – Johannes der Täufer, der Christus vorausgeht und ihn ankündigt.
Irving selber wurde nicht „Apostel“, ist aber ein maßgeblicher Vorläufer und Impulsgeber der Katholisch-Apostolischen und Neuapostolischen Bewegung gewesen – auch wenn sich diese Gruppen in der Folgezeit zumeist von ihm distanziert haben, da sie mit seinen teilweise extremen Lehren und Ansichten nicht identifiziert werden wollten. Insofern ist auch die zum Schimpfwort gewordene Bezeichnung „Irvingianer“ für die apostolischen Gruppen problematisch und wird von diesen strikt abgewiesen.
Dennoch hat Irving unbestreitbare Einflüsse auf die apostolische Bewegung ausgeübt. Es wären zu nennen: die Wiederentdeckung der charismatischen Gaben, die Betonung des Heiligen Geistes, die Propagierung der Geistestaufe, die Erwartung der nahen Wiederkunft Jesu Christi. Nach Ansicht von Albrecht Weber war Irving nicht „Stifter“ der Katholisch-Apostolischen Gemeinden, sondern, „Herold“, „Verkünder“ und „Propagandist“. (15) Die Stifter waren andere Personen, von denen im nächsten Abschnitt zu handeln ist.
Der nächste Abschnitt klärt über die ersten Propheten- und Apostelberufungen auf:
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