Hermann Niehaus (65), ab 1905 Stammapostel, war 1848 in Steinhagen bei Bielefeld als Kleinbauernsohn geboren und in pietistischen Kreisen groß geworden. Er hatte nach eigener Aussage einmal eine „Bekehrung“ erlebt, und zwar unter der Verkündigung Menkhoffs. Allerdings wurde er dann mit Menkhoff zusammen ins neuapostolische Lager hinübergeholt.
Als Neunzehnjähriger gehörte er zu dem kleinen Kreis derer, die sich unter Menkhoffs Verkündigung den Neuapostolischen anschlossen. 1868 wurde die ganze Familie Niehaus versiegelt. 1869 wurde Hermann Niehaus zum Evangelisten berufen, 1872 zum Bischof, doch nahm er diese Berufung damals noch nicht an, weil es keine Arbeit für ihn gab. Es waren in dieser Gegend noch zu wenige Neuapostolische vorhanden, als dass ein Bischof nötig gewesen wäre. Erst 1894 akzeptierte er dann die Berufung zum Bischof durch Krebs. 1896 wurde er Apostel des Bezirks Bielefeld und schließlich nach dem Tode von Krebs 1905 der zweite Stammapostel – ein Amt, das er bis 1930 innehatte. 1932 ist er gestorben.
Unter Niehaus` Führung gab es so viele Abspaltungen wie nie zuvor. Schon bei seinem Amtsantritt hatte er betont, dass die Rottengemeinschaften an seiner „Dickfaust und eisernen Stirne zerschellen werden“. (57)
Niehaus nahm eine Neueinteilung der Apostelbezirke vor, forcierte einen Generationswechsel unter den Amtsträgern und verlegte die Leitung nach Steinhagen, seinen Wohnort. Unter seinem Stammapostolat nahm diese Gemeinschaft jedes Jahr um einige Tausend Mitglieder zu. 1907 wurde die Bezeichnung „Neuapostolische Gemeinde“ allgemein eingeführt. Vorher hatte man diesen Namen nur in Sachsen geführt.
Niehaus war es auch, der 1916 für die Herausgabe eines Lehrbuchs sorgte mit dem Titel „Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben“. Dieses ist zu einem – mehrmals überarbeiteten – Standardwerk bis heute geworden. Es existiert ja verhältnismäßig wenig Literatur von den Neuapostolischen, im Unterschied zu den Katholisch-Apostolischen. Umso wichtiger ist dieses Lehrbuch mit über 200 Fragen und Antworten, eine Art Katechismus der Neuapostolischen Kirche.
Im Ersten Weltkrieg kam es zu einer spektakulären Falschprophetie von Niehaus. Das Prophetenamt war damals bereits auf das Apostelamt gelegt worden. Niehaus war ein glühender Nationalist im Ersten Weltkrieg wie die meisten Deutschen in jener Zeit. Als solcher beschwor er die Treue zu Gott und zum Kaiser. Und in seinen Gesichten und Träumen wurden ihm der Sieg Deutschlands und der Untergang Englands „zweifellos geoffenbart“. Dies traf bekanntlich nicht ein. Deshalb gab es nach dem Krieg unter anderem auch deshalb Austritte vieler Enttäuschter.
1917 wurde in der Kriegssituation eine Neuerung veranlasst: Abendmahls-Hostien wurden mit je drei Tropfen Wein beträufelt und so an die Soldaten im Felde geschickt, da Wein knapp war und sich schlecht transportieren ließ. Obwohl die Kriegssituation nicht mehr vorhanden ist, wird dies heute noch so praktiziert in neuapostolischen Versammlungen. Das Abendmahl wird im Grunde nur unter einer Gestalt (Brot) gereicht, allerdings wird die zweite Gestalt (Wein) in Form dreier Tropfen, die auf die Hostie schon fabrikmäßig eingegeben sind, zumindest angedeutet. Dem Kelchwort „Trinket alle daraus!“ ist damit allerdings nicht entsprochen.
Niehaus starb – wie schon erwähnt – am 23. August 1932, aber er musste bereits zweieinhalb Jahre vorher vom Stammapostelamt zurücktreten. Welches war der Grund dafür?
Die letzten zweieinhalb Jahre lebte er in geistiger Umnachtung. Das begann vermutlich, als er am 25. Januar 1930 in großem Rahmen sein 25-jähriges Jubiläum als Stammapostel feierte. Ich zitiere zunächst die Beschreibung der Vorkommnisse, wie Helmut Obst sie wiedergibt:
„Auf dem Gipfelpunkt seines Erfolges, inmitten der Selbstdarstellung seines hohen Sendungsbewusstseins, traf ihn ein schwerer Schicksalsschlag. Er erlitt einen Unfall. Die Darstellung, dass Niehaus bei einem geistlichen Theaterspiel anlässlich seines 25-jährigen Stammaposteljubiläums Christus dargestellt habe und dabei von einer Treppe gestürzt sei, wird von neuapostolischer Seite als falsch bezeichnet.“ (58)
Auch Hutten weist auf die unsichere Forschungslage hin:
„Über das Ende von Hermann Niehaus liegen widersprüchliche Darstellungen vor. Nach der einen, die aus zuverlässiger Quelle stammt, wurde 1930 bei der Feier zu seinem 25-jährigen Jubiläum als Stammapostel ein Bühnenspiel aufgeführt. Auf der Bühne befand sich eine Treppe, welche die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellen sollte. Niehaus wirkte mit, indem er die Rolle Christi spielte und seine Wiederkunft vorführte. Dabei ereignete sich, wohl infolge eines Fehltritts, das Unglück. Niehaus erlitt schwere Verletzungen, konnte darum sein Amt nicht weiterführen und starb 1932. Hermann Niehaus Junior bestritt in einer eidesstattlichen Versicherung vom 7. Mai 1968 diese Darstellung. Sein Vater habe nie an einem Bühnenspiel teilgenommen, sondern der 82-Jährige sei am 25. Januar 1930 auf der Treppe von seinem Wohnhaus zu Fall gekommen.“ (59)
Wir stehen also vor unterschiedlichen Angaben. Auszuschließen ist jedoch nicht, dass die erste Version zutrifft, denn das hohe Sendungsbewußtsein von Niehaus wird auch in neuapostolischer Literatur bezeugt:
„Als er bei seiner Verwandten, der Witwe N., auszog, sagte er zu ihr beim Abschied: ‘Du hast nicht mich, sondern den Herrn Jesum aus deinem Hause getan. Nun wird dir dein Haus wüste gelassen werden.’“ Und „diese Worte sollten sich im Laufe der Zeit bewahrheiten“, heißt es in einer neuapostolischen Biographie über Niehaus mit dem Titel „Der Größte unter ihnen“. (60)
Auch Lieder aus dem Neuapostolischen Gesangbuch von 1912 machen das deutlich. In Lied 509 heißt es in Strophe 1: „Ja nirgends auf dem Erdengrund fühlt’ ich mich frei so von Beschwerde, als an der Brust von Vater Krebs, das war mein Himmel auf der Erde.“ Und in Vers 3: „Verloren gehet von uns keiner, so wir uns klammern an die Hand in seinem Sohne Niehaus heute. An dieser Brust wird weiter blühn für uns der Himmel auf der Erde.“ (61)
Diese Strophen wurden später durch andere ersetzt. Die Personennamen wurden weggelassen. Aber zu Lebzeiten der Stammapostel und unmittelbar nach ihrem Tod wurde ihnen übermenschliche Verehrung zuteil.
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